Dann, durch Brücken mit beiden Ufern verbunden, kommt eine mächtige Insel in der Seine, welche die Bürger Cite zu nennen pflegen. Dort dominiert der Dienst an den Großen dieser Welt. Auf dem Eiland hat seit Jahrhunderten der König von Frankreich seinen Palast - auch wenn er wegen des Krieges gegen die Engländer zu diesem Zeitpunkt nur allzu oft andernorts weilte, halb als Feldherr, halb als Flüchtling vor den Bogenschützen der Feinde. Unverrückbar ist jedoch der Dienst an GOTT - und so erhebt sich, zum Ruhme des HERRN, der Muttergottes, der Christenheit und der Stadt Paris, auf der Insel die schöne Kathedrale Notre-Dame. Die mächtigen Blöcke ihrer beiden Türme überragen das Meer der Dächer und lenken die sehnsüchtigen Blicke eines jeden Gläubigen unweigerlich zu ihr hin.
Schließlich, am jenseitigen, linken Ufer der Seine, erstreckt sich die Universite. Man könnte sie, geschützt hinter einer machtvollen, bogenförmigen Mauer liegend, für ein kleineres, ansonsten jedoch identisches Ebenbild der Ville halten. Doch während am rechten Ufer das Geld regiert und in der Mitte der Glaube, so herrscht am linken Ufer der Geist. Hier sind die Kollegien beheimatet, auf denen die im ganzen Abendland gerühmten Studien betrieben werden. Außerdem liegen in diesem Teil der Stadt die Klöster der großen Orden - auch das der Dominikaner, das so heiß herbeigesehnte Ziel meiner langen Wanderung.
Ich überließ Bruder Anselm die Führung, verwirrt von tausenderlei Gerüchen und Geräuschen. Eng standen die Fachwerkhäuser nebeneinander. Auf Höhe des zweiten oder dritten Geschosses trugen mächtige, schwarze Eichenbalken Erker und vorkragende Etagen, welche die Straße verdunkelten. Nur zu oft kamen sich gegenüberliegende Häuser in luftiger Höhe so nahe, dass kein Licht mehr auf die Straße fiel, sodass sie selbst am Tage einer düsteren Höhle glich. Schlamm und Kot besudelten meine Füße, während ich hinter meinem Mitbruder die Gasse entlangstolperte, von rücksichtslosen Bauern geschubst wurde, gefährlich schwankenden Ochsenkarren aus dem Weg sprang und mich an den halbwilden Schweinen und räudigen Hunden, die in den stinkenden Abfallhaufen wühlten, vorbeidrückte. Einmal bewarf mich gar eine Horde schmutziger Kinder mit Nüssen und schleuderte mir Schimpfworte hinterher, die ich nicht verstand, die jedoch offensichtlich etwas mit meiner Kutte zu tun hatten. In jedem Haus, so schien mir, öffnete sich im Erdgeschoss ein Laden, eine Werkstatt oder ein anderes Gewerbe, um Geld zu verdienen. Metzger priesen Schinken und Rinderlungen an; aus Backstuben duftete es nach schwarzem Brot; den Schmieden entquollen der Lärm von Hammer und Amboss, der Gestank heißen Metalls und glühender Kohlen, die beißende Hitze von Feuer und Rauch; aus den Tavernen tönte das Gegröle der Betrunkenen und es stank nach Wein und dem, was von sich gibt, wer davon zu viel trinkt; aus den Badestuben, den sündigen Pfuhlen, kam Nebel wie aus einem Sumpf und der Duft nach Birkenrinden und Gewürzseife.
So betäubt war ich, so überwältigt waren alle meine Sinne, dass ich das Ufer der Seine erst bemerkte, als Bruder Anselm unvermittelt seinen Schritt anhielt und ich in ihn hineinstolperte. »Die Place de Greve«, sagte er und deutete mit einer halb verächtlichen, halb bewundernden Geste einmal rundum. Ich fand mich auf einem Platz wieder, der wie ein lang gestrecktes Viereck geformt war, dessen eine Schmalseite sich zum Fluss hin öffnete. Hier hatte die große Zunft der Seineschiffer ihren Hafen, an dem sie all die Kähne mit Wein anlegen ließ. Diese Zunft - die marchands de l'eau - ist so mächtig, dass ihr Wappen mit dem Schiff zum Wappen von Paris geworden ist. Dicht nebeneinander lagen Schiffe und Kähne am Pier. Wie ein schwimmender Wald aus schlanken Bäumen tanzten ihre Masten und Rahen vor dem Himmel. Glücklich war ich — und verwirrt. Verwirrt von den Schauerleuten, die Fässer rollten oder Säcke schleppten, die in düsteren Lagerhäusern verschwanden, welche die Längsseiten des Platzes einfassten. Dazwischen drängten sich die Tavernen — die Orte, zu denen die Schiffsleute strebten, die Landsknechte, die Gehilfen des Waagenmeisters, die Beutelschneider und Wahrsager, die sündigen Mädchen und die alten Vetteln, deren schwarze Künste mich schaudern ließen. Ein hoher Herr stolzierte vorbei, ganz Eitelkeit und Tand: die Füße in Schnabelschuhen, so lang wie die größten Kerzen, die im Kloster zu Ostern entzündet werden; die Beine in einer weißen Seidenhose, so schamlos eng, dass sich jeder Muskel und noch ganz Anderes so deutlich abzeichnete, als würde er gänzlich nackend gehen; der blaue, mit Gold durchwirkte Mantel so kurz, als hätte sich der Edle vergriffen und versehentlich das Gewand seines Sohnes angezogen. Als ich gar zu sehr gaffte, starrte einer der beiden Knappen, die im Gefolge des Adeligen genauso eingebildet daherstolzierten wie ihr Herr, zu mir zurück, stieß dann seinen Kumpanen an, deutete auf mich und sagte etwas. Beide lachten, und ich drehte mich beschämt weg. Doch nahmen mich so viele Dinge gleichzeitig gefangen, dass meine Sinne und mein Geist alsbald weiterschweiften. Ich ließ mich willig fortziehen, als Bruder Anselm mich am Arm packte und zur Brücke wies.
Es waren nur ein paar Schritte nach rechts bis zum Grand Pont. Die Brücke ist ganz aus mächtigen Eichenbalken gezimmert und spannt sich in fünf Bögen bis zur Insel. Wohl hundert Häuser säumen ihre Seiten, sodass sie einer über den Wassern schwebenden Stadt gleicht und man kaum einen Blick auf die Seine erhaschen kann, wenn man auf ihr entlangschreitet.
In diesen Häusern haben die Juweliere ihre Werkstätten und die Geldwechsler ihre Stuben, sodass man wohl kaum irgendwo in Paris so viele in bunte Wämser gehüllte Edle und reiche Kaufleute sowie in Samt, Seide und Spitzen gehüllte feine Damen auf einem Platz zu finden vermag wie hier. Es war ein Gedränge und Gestoße, denn alle, vom Baron bis zum Bauern, mussten sich den Platz mit Maultieren und Ochsen teilen, und unablässig strömten Menschen hin und fort, von einer Seite der Stadt zur anderen und zurück, sodass man wohl trefflich sagen könnte, dass über dem Strom des Wassers ein zweiter, aus Leibern, in luftiger Höhe den ersteren querte. Die hölzernen Balken knarrten und ächzten unter der Last der Menschen und Tiere und unter der Wucht der Seine, die, wiewohl längst nicht so groß wie der Rhein, doch imposant genug dem fernen Meer entgegenfloss.
Als wir die Cite erreicht hatten, war ich wie geblendet vom Anblick der mächtigen Kathedrale Notre-Dame.
Wie fühlte ich mich winzig im Angesicht dieser Stein gewordenen Lobeshymne. In Köln bauten die Bürger einen Dom, doch ragten bisher kaum mehr als ein paar Gewölberippen in den Himmel. Notre-Dame jedoch war bereits seit achtzehn Jahren vollendet. An jenem frühen Abend, meinem ersten in Paris, war ich überwältigt und sah kaum mehr als die beiden wuchtigen Türme, die, engelhaften Zwillingen gleich, ohne Ende in den Himmel strebten. Zwischen ihnen erstrahlte eine Rosette in gelb und rot, grün und blau und allen Zwischenfarben des Regenbogens, sodass es mir wohl dünkt, dass auch das Licht im Paradies schöner kaum leuchten könne. Wie gerne hätte ich einen Blick in das Innere der Kathedrale geworfen, doch Bruder Anselm drängte mich, das nahe Ziel vor Augen, den Weg zum Kloster fortzusetzen.
Widerwillig folgte ich ihm auf gerader Gasse zum Petit Pont. Als wir am anderen Ende der Insel wieder die Seine erblickten, bemerkte ich dort viele wunderliche, fest vertäute, plumpe Kähne. Erst bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es schwimmende Mühlen waren: große Barken, mit Wasserrädern an den Seiten, welche sich in der unablässigen Strömung drehten. Dutzendfach erklang das Knirschen der schweren Mühlsteine, zwischen denen das Korn zu Mehl zerrieben wurde. Wir gingen über den Petit Pont, dann waren wir in der Universite, am linken Ufer der Seine.
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