Ich blickte ihn empört an, doch der Inquisitor atmete nur tief durch, murmelte ein kurzes Gebet und bezwang so seinen aufbrausenden Zorn. »Verzeih, mein junger Bruder«, sagte er dann. »Ich habe einen Moment nicht mehr daran gedacht, dass man dergleichen nicht in unseren frommen Studien lernt. Doch ich habe Ähnliches schon viel zu häufig sehen müssen, als dass mich dies noch überraschen würde. Den Zorn jedoch, den kann ich selbst nach all den Jahren kaum bemeistern. Welche Kräfte hat doch das Weib!«
Fürwahr, da sprach mir der Inquisitor aus der Seele. Denn tief in mir, da jauchzte eine leise, sündige Stimme über den Streich der Schönfrau und freute sich, dass Jacquette nicht im Kerker schmachten musste. In meinem Geiste beschwor ich ihr Bild herauf, wie sie uns, sich aus dem Schlamm der Straße erhebend, im Schatten von Notre-Dame gegenübertrat. Ihre Züge vermischten sich mit denen von Klara Helmstede und meine Seele brannte in den Feuern von Wollust und Scham.
In jener Nacht gedachte ich der Mahnungen von Meister Philippe und bezwang mein Bedürfnis, mich wieder zum Altar zu schleichen und dort in Demut um die Vergebung meiner Sünden zu flehen. Stattdessen legte ich mich gehorsam auf meine Pritsche, doch der Schlaf wollte auch diesmal nicht über mich kommen. In meiner Seele tanzten Heinrich von Lübeck mit seinen toten Augen, ein gesichtsloser, sterbender Kapitän, ein verängstigter Reeder und ein Geisterschiff einen wilden, satanischen Reigen um einen riesigen Kopf, der, einer Chimäre gleich, mal die Züge einer sündigen Schönfrau annahm und mal die einer respektablen Lübecker Bürgerin. Erst nach den Nocturnes um Mitternacht, zu denen ich mich, schwankend vor Erschöpfung, wie ein Kranker geschleppt hatte, fiel ich endlich in einen tiefen Schlummer — doch sollte dieser viel zu kurz sein.
Ich wachte auf, lange vor dem Morgengrauen. Es mochte die letzte Stunde der Nacht sein, bald würde ein Bruder zu den Laudes läuten. Doch noch war es zu früh, um in die Kirche zu gehen. Ich lag, gerädert, als wäre ich von den Folterern der Inquisition befragt worden, auf der Pritsche und fragte mich benommen, was mich wohl geweckt haben mochte.
Da vernahm ich es erneut. Schritte.
Ich hob meinen Kopf und horchte — es gab keinen Zweifel: Jemand ging den Gang vor meiner Zelle entlang. Ich konnte die leisen Schritte von zwei, drei, wohl noch mehr Menschen unterscheiden. Für einen Moment glaubte ich, dass sich alle meine Mitbrüder zu einer nächtlichen Messe versammeln würden und nur ich, der ich aus der Fremde kam, von ihr ausgeschlossen wäre.
Vorsichtig erhob ich mich von meiner Schlafstatt und trat geräuschlos an die Tür, wo ich mit dem Ohr an den Brettern lauschte. Ich konnte leise Stimmen vernehmen, doch konnte ich kein Wort verstehen. Einmal fiel der unruhige Schein einer kleinen Kerze durch den Spalt unter meiner Tür in meine Zelle. Ich presste mich erschrocken an die Wand und wagte nicht mehr zu atmen. Mein Herz hämmerte mir im Halse und ich glaubte, dass jeden Augenblick ein nächtlicher Besucher - aber wer? - in meine Zelle treten würde.
Doch der Lichtschein verlosch, das Murmeln verklang, die Schritte verhallten.
Erst nach einer Zeit, die mir unendlich lang vorkam, die jedoch kaum mehr als eine Viertelstunde betragen haben mochte, wagte ich es, meine Tür um eine Handbreit zu öffnen und in den düsteren Flur hinauszuspähen.
Nichts. Das Kloster war, soweit ich sehen und hören konnte, ruhig wie eine Gruft.
Ich warf mich wieder auf meine Pritsche und fiel in einen wirren Traum, an dessen Einzelheiten ich mich nicht mehr erinnern konnte, als mich die Glocke zu den Laudes rief. In der Kirche, als meine Brüder und ich die Psalmen anstimmten, sagte ich mir, dass auch die nächtlichen Schritte und Stimmen meinem Traum entsprungen sein mussten. Wer sollte es wagen, nachts durch ein Kloster der Dominikaner zu schleichen? Welcher Mönch würde dies tun? Welcher Fremde so verwegen sein?
So hatte ich mich bis zum Ende der Laudes schon selbst überzeugt, dass ich Opfer einer Täuschung der Nacht gewesen war. Doch als ich erleichtert zu meiner Zelle zurückging, um mir vor dem Morgenmahl die Hände zu waschen, da erblickte ich im ersten fahlen Dämmer des Tages auf dem Gang kurz vor meiner Zellentür einen kleinen weißen Fleck auf dem Boden. Einen frischen Tropfen Kerzenwachs.
Später, beim Morgenmahl, rang ich mit mir, ob ich Meister Philippe von dem nächtlichen Spuk erzählen sollte. Vielleicht hatte er eine simple Erklärung dafür? Womöglich würde meine Erzählung seinen inquisitorischen Ehrgeiz wecken und ihn dazu anspornen, dieses Rätsel zu lösen? Doch schließlich sagte ich mir, dass die nächtlichen Geräusche wohl kaum etwas mit den schwer wiegenden Untersuchungen zu tun haben mochten, die uns der Prior aufgetragen hatte. Außerdem wusste ich viel zu wenig, um Meister Philippe irgendetwas Sinnvolles vortragen zu können - er würde mich auslachen. Und schließlich war ich doch nun selbst Inquisitor. Warum also sollte ich meinen Geist und meine Sinne nicht darin üben, jenes nächtliche Geheimnis allein aufzuklären?
Dann, so sagte ich mir in meiner Vermessenheit, gäbe es ja immer noch Gelegenheit genug, mich Meister Philippe zu offenbaren. Wie töricht doch der Hochmut macht und wie eifrig das Bemühen ist, seinem Oberen zu gefallen, wenn man gesündigt hat!
5
IN DER KATHEDRALE NOTRE-DAME
Nach dem Morgenmahl begaben Meister Philippe und ich uns zur Kathedrale Notre-Dame.
»Es hätte mir, ich gestehe diese Sünde gern, ein gewisses Vergnügen bereitet, die Schönfrau zur Messe fuhren zu lassen. Dort sitzen die zwölf Domherren zu Notre-Dame auf ihren hohen Stühlen im Chor- und unser Dirnchen hätte Muße gehabt, sie eingehend zu betrachten. Vielleicht hätte sie sich dann doch erinnert, welchem der fleischeslustigen Diener des HERRN sie in jener fatalen Nacht begegnet sein mag. Doch stark ist die Sünde des Weibes, stärker jedenfalls als mancher Plan eines Inquisitors.« Meister Philippe seufzte, schien jedoch nicht wirklich betrübt zu sein.
»Nun denn, dann werde ich die Domherren nach der Messe einzeln befragen. Wir wollen ja kein unnötiges Aufsehen erregen. Geredet wird in Paris sowieso schon genug.«
So kam es, dass wir uns zum Ende der Messe in GOTTES wundersames Haus schlichen wie zwei Diebe in der Nacht. Unauffällig trat Meister Philippe zu einem großen, rotgesichtigen Domherrn: Es war, wie ich später erfahren sollte, Nicolas d'Orgemont, der Dekan der zwölf Domherren.
Für einen Moment glaubte ich schon, den Geistlichen vor mir zu sehen, der seine Gelüste an Jacquette ausgelebt hatte - passte ihre Beschreibung denn nicht perfekt auf ihn? Doch als ich die unchristliche Wut, die sich meiner Seele bemächtigen wollte — und die meinen eigenen sündigen Gedanken mindestens genauso entsprang wie gerechtfertigtem Zorn —, bemeistert hatte, da erkannte ich, dass elf der zwölf Domherren feist und rotgesichtig waren. Nur einer war hager, hochgewachsen und schon im Greisenalter. Ihm allein traute ich jene nächtliche Unzucht nicht zu.
Der Inquisitor nahm Nicolas d'Orgemont beiseite und flüsterte ein paar Worte mit ihm. Dann zogen sich die beiden, zu meiner großen Enttäuschung, in eine Nische neben einer Kapelle im Chorumgang zurück. Ich erkannte die Absicht von Meister Philippe. Er wollte jeden Domherrn einzeln befragen — doch so, dass es einfachen Gläubigen, die auch jetzt noch in großer Zahl im Kirchenschiff wandelten, beteten, vor den Beichtstühlen anstanden oder Kerzen entzündeten, nicht weiter auffiel.
Und mich, den jungen Mönch aus der Fremde, ließ er bei diesen delikaten Befragungen diskret außer Hörweite warten. Deshalb sagte ich mir denn, dass Demut eine der schönsten Tugenden eines Mönches sei — und ich mich nun in ihr üben durfte.
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