Ich strebte, so schnell es meine Würde als Mönch zuließ, zum Herzen der Stadt. Auf der Straße drängten sich, wie üblich, Mann und Weib, Herr und Diener, Greis und Kind, dazu Schweine, Hunde, Katzen. Ich vermag bis heute nicht zu sagen, woran es lag, doch an jenem Tag glaubte ich zum ersten Mal, dass Menschen und Tiere auf den Straßen von Paris plötzlich lauter geworden seien, zugleich zorniger und ängstlicher. Die Fuhrleute schienen mir noch rascher zur Peitsche zu greifen als sonst; Betrunkene grölten obszöne Vagantenlieder, selbst zu dieser frühen Stunde; zwei Marktfrauen beschimpften sich kreischend; ein räudiger Hund folgte mir wohl hundert Schritte und bellte mich unaufhörlich an, bis ich, die Würde meines Standes vergessend, einen Klumpen Dreck aufhob und nach ihm warf; ein halbes Dutzend Katzen fauchten in einer dunklen, nach Ausscheidungen stinkenden Gasse ein verletztes Schwein an, das vor und zurück rannte, von seinen Peinigern jedoch stets wieder gestellt wurde; und selbst die Ratten, sonst doch tückisch und scheu, waren frech geworden, versuchten nicht mehr, sich zu verbergen, sondern huschten den Bürgern fast über die Füße.
Einige Bengel machten sich einen Spaß daraus, die Ratten mit Stöcken und Steinen zu jagen. Ein paar wurden ihnen zum leichten Opfer, denn sie waren ungewöhnlich langsam und bluteten schon aus der Schnauze, noch bevor sie einer der Jungen zum ersten Mal getroffen hatte.
Ich jedoch ging die Straße hinunter, als gehörte ich nicht in diese Welt. Manche Menschen grüßten mich respektvoll, die meisten allerdings wichen vor mir zurück. Ich erlag der Sünde der Hochmut, denn ich spürte, dass die Bürger Angst hatten - wenn nicht vor mir, so doch vor meiner Kutte. Stolz war ich und ich fühlte mich wichtig und als Abgesandter des HERRN. Und doch gab es an jenem Tag keinen größeren Narren auf der Rue Saint-Jacques als mich. Vor dem Grand Pont erblickte ich den jungen Sergeanten de la Douzaine, der uns zwei Tage zuvor die Nachricht von Jacquettes Flucht überbracht hatte. Ich ging auf ihn zu, erwiderte seinen respektvollen Gruß mit segnender Hand und sagte ihm geradeheraus, dass ich einen Geldwechsler suche, der mir Aufklärung geben könne über alte Münzen und solche aus fernen Ländern.
Der Sergeant lachte kurz. »Jeder Geldwechsler kennt Münzen aus den Ländern der Christenheit und sogar solche, die in den Ländern der Heiden geprägt worden sind. Das ist ja ihr Beruf, Bruder«, erklärte er mir — offensichtlich froh darum, mir diesmal keine unangenehme, sondern eine nützliche Neuigkeit kundzutun.
»Und alle Geldwechsler sind Schurken, denen man nicht vertrauen darf. Auch das gehört zu ihrem Beruf.«
»Möchtet Ihr selbst Geld anlegen, Bruder?«, fragte er dann. »Aber nein«, erwiderte ich empört. »Ich bin Mönch, ich besitze nichts von dieser Welt. Ich verlange nur nach einer Auskunft. Sie wird mir bei einer Untersuchung der Inquisition vielleicht von großem Nutzen sein.«
Der Sergeant blickte mich einen Augenblick lang mit ausdrucksloser Miene an, sodass ich nicht zu erraten vermochte, ob er den richtigen Schluss zog und mein Anliegen mit dem Tode Heinrich von Lübecks in Verbindung brachte oder ob er meine Erklärung nur für eine vorgeschobene Lüge hielt, die verbergen sollte, dass ich doch heimlich ein Vermögen anlegen wollte.
»Der erfahrenste und, wenn man so will, der ehrlichste der Geldwechsler ist Pietro Datini«, sagte der Sergeant schließlich nach einigem Nachdenken. »Ein Florentiner, doch wohnt er schon seit vielen Jahren in Paris. Er hat seine Wechselstube im ›Haus zum Falken‹. Es ist das größte Haus auf der rechten Seite des Grand Pont. Ihr könnt es nicht verfehlen, Bruder.«
»GOTT segne dich«, erwiderte ich zufrieden und begab mich auf die Brücke.
*
Der Sergeant hatte Recht: Das »Haus zum Falken« erhob sich auf der rechten Seite der großen Brücke, ungefähr auf halbem Wege über den Strom. Es war, wie alle Anwesen auf dem Grand Pont, aus Holzbalken gezimmert, schmal und hoch. Doch es war eine Winzigkeit höher als die Nachbarhäuser. Diese kleine Unregelmäßigkeit musste Datini, ein Vermögen gekostet haben, schließlich hatte der König die Höhe der Gebäude auf der Brücke einst genauestens beschränkt. Die Balken waren glatt gehobelt und grün und rot gestrichen, die Fenster verglast, den Eingang zierte feines Schnitzwerk: Eine üppige — und wie ich fand höchst sündige, ja heidnische — Dame schüttete ein Füllhorn aus. Ein Symbol des Reichtums, vermutete ich. Die Barmherzigkeit oder die Freigebigkeit würde es bei einem Geldwechsler wohl kaum darstellen. Über dem Kopf der Frauengestalt war ein vergoldeter Raubvogel mit gespreizten Schwingen angebracht, was diesem Haus zu seinem Namen verholfen hatte.
Ich zögerte kurz und blickte mich um. Gedränge und Lärm herrschten auf dem Grand Pont, doch niemand schien meiner zu achten. Also holte ich noch einmal tief Luft und trat mit einem raschen Schritt über die Schwelle ins »Haus zum Falken«. Ich fand mich in einem großen, sauber gefegten Raum wieder. Es roch nach Holz und Kerzenwachs. Die großen Fenster ließen ungewöhnlich viel Licht herein, doch dämpften sie den Lärm der Marktschreier und eisenbeschlagenen Karrenräder, die über die Brücke rumpelten. Nur ein ständiges, feines Zittern des Fußbodens verriet einem in dieser Stube noch, dass man sich auf einer Brücke, nur ein paar Mannslängen über der schäumenden Seine befand und nicht auf GOTTES fester Erde.
Zu meiner Rechten erstreckte sich ein großer Tisch fast über die ganze Länge des Raumes. Auf seiner mit Filz überzogenen Platte stand eine bronzeschimmernde Waage, daneben lag ein Rechenbrett. Geldstücke konnte ich keine erblicken, doch hinter dem Tisch gewahrte ich einige eisenbeschlagene, mit je zwei oder drei Schlössern gesicherte Kisten - und es war nicht schwer zu erraten, was darinnen sein mochte.
Zu meiner Linken öffnete sich die Rückwand zu einer schmalen Stiege, die in die oberen Stockwerke führte.
Ein junger Mann in unauffälliger dunkler, doch wohl geschneiderter Kleidung stand hinter dem Wechseltisch und blickte mich einen Augenblick erstaunt und furchtsam an. Dann fing er sich wieder, verbeugte sich und eilte geschäftig um den Tisch herum, um mich zu begrüßen.
»Was kann ich für Euch tun, Bruder?«, fragte er. Sein Französisch hatte einen starken Akzent, der mir unbekannt war. »Ich wünsche den Herrn Datini zu sprechen«, entgegnete ich und vermied es absichtlich, meinen Namen zu nennen. Mein Mönchshabit reichte aus, um den Mann von meiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen. Ohne mir weitere Fragen zu stellen, führte er mich, unter vielerlei Verbeugungen, die Stiege hinauf. Im ersten Stock öffnete sich vor mir ein Raum, der zur Rückseite der Grand Pont lag. Ein breites Fenster gab einen berauschenden Blick auf die Türme und Dächer von Paris frei, auf die Pinassen und Wassermühlen, welche die Wellen der Seine bedeckten, und auf die himmelstrebende Kathedrale von Notre-Dame. Das Fenster war geöffnet und ließ eine erfrischende Brise in die Stube. An der Seite standen ein paar Truhen unterschiedlicher Größe, in der Mitte ein Schreibpult und mehrere bequeme, hochlehnige Stühle.
Auf einem saß ein Mann in rotem Wams, der eine Urkunde studierte. Nach dem, was mir der Sergeant gesagt hatte, hätte ich erwartet, dass Pietro Datini schon ein älterer Mann war. Doch er war jünger, als ich vermutet hatte, sicherlich kaum jenseits der Dreißig. Er war groß und hager und hatte lange, lockige, dunkle Haare. Sein Gesicht war schmal, seine Augen standen eng beisammen. Am Auffälligsten war jedoch seine Nase: Sie war lang, leicht nach rechts gebogen und von Wucherungen entstellt. Sie allein zerstörte Ebenmaß und Schönheit seiner Züge.
Ich zwang mich, nicht auf seine entstellende Nase zu starren, als sich der Geldwechsler mit einer eleganten Bewegung erhob, die Urkunde zusammenrollte, sich formvollendet verbeugte und mich höflich begrüßte.
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