Jemand, der sich nicht unter den Gemeindemitgliedern befand.
Langsam drehte er sich um. Gemurmel setzte ein. Er blickte in die erstaunten Gesichter seiner Pfarrkinder, die es nicht gewohnt waren, dass sich der Priester während der Wandlung zu ihnen umdrehte. Er war zu langsam gewesen. Er sah nur noch einen Schatten.
Einen Schatten…
Der Umriss erinnerte ihn an Johannes Dulcken, doch im ungewissen Licht der Marienkapelle war die Gestalt nicht deutlich auszumachen. Sie verschwand nach draußen. Andreas wäre ihr am liebsten nachgegangen, doch er traute sich nicht, die Messe einfach zu unterbrechen. Pfarrer Hülshouts Geduld mit ihm wäre dann bestimmt am Ende. Er versuchte, Elisabeth und Anne durch Nicken ein Zeichen zu geben. Dann drehte er sich wieder um. Er hörte, wie sich hinter ihm jemand bewegte, und widerstand dem Drang, sich noch einmal umzuschauen.
Als er nach der Messe durch die Kapelle hinüber in die im Bau befindliche Kirche und die Sakristei ging, konnte er Elisabeth und Anne nirgendwo sehen. Offenbar hatten die beiden Frauen seinen Wink verstanden. Rasch zog er sich um, streifte den schwarzen Talar über und hastete in das Pastoratsgebäude.
»Sind sie schon zurück?«, fragte er Grete, die ihm öffnete. Sie schüttelte den Kopf und sah ihn missmutig, ja beinahe feindselig an. Er trat von der Tür zurück und warf einen Blick nach rechts und links die Bursgasse hinunter. Allmählich sammelten sich Schatten zwischen den Giebelhäusern; das Licht vor der Madonna am Geburhaus wurde stärker, als wolle es die nahende Nacht ganz allein bekämpfen. Wo waren die beiden Frauen? War es wirklich Dulcken, den er in der Kirche gesehen hatte? Waren sie ihm gefolgt? Wohin? Hatten sie ihn erreicht? Schwebten sie vielleicht gar in Gefahr? Andreas lief die Bursgasse bis zur Minoritenstraße hinunter und folgte dieser einige Schritte in Richtung Rhein. Er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Er blieb stehen und biss sich vor Sorgen auf die Fingerknöchel. Es waren nicht mehr viele Leute auf der Straße; ein abgerissener Junge trieb eine kleine Herde magerer Schweine die Minoritenstraße hoch, einige Mägde huschten auf hohen hölzernen Trippen umher, weil sie sich die kostbaren Schuhe nicht durch den Schmutz der Straße ruinieren wollten. Sie trugen große Eimer und waren sicherlich auf dem Weg zu den Brunnen der Stadt. Alles wirkte so normal, doch irgendwo im Labyrinth der Straßen und Gassen ging etwas vor sich. Irgendwo befanden sich Elisabeth und Anne auf der Suche nach dem schattenhaften Mörder.
Was war, wenn der Mörder wirklich nur ein Schatten war? Ein Schatten aus der Unterwelt? Wenn es stimmte, dass Ludwig Verkehr mit den bösen Geistern gepflegt hatte?
Andreas blieb stehen. Die schwarzen, lichtlosen Häuser schwiegen ihn an. Finsternis schwebte auf leisen Flügeln herbei, nistete zwischen Kaminen, Giebeln, Hauswänden, der Abendstern glühte über der Kirche der Franziskaner auf. Manchmal stellte sich Andreas vor, die Sterne seien die Augen Gottes oder die Fenster zum Himmelreich. Er schaute nach oben. Immer mehr Lichtpunkte erschienen. Und hier unten wurde es immer düsterer.
»Andreas!«
Er drehte sich um. Und atmete auf. Es waren Elisabeth und Anne, die mit flatternden Röcken auf ihn zuliefen. Ihre hellen Kleider waren wie Sterne in der Nacht der Stadt. Außer Atem stellte sich Elisabeth vor ihn. Ihre Wangen waren gerötet, ihre grünen Augen weit, mit großen Pupillen, die schwarz wie der Himmel waren.
»Es war Dulcken«, sagte sie. »Er hat mich erkannt und ist uns entwischt. Es tut mir so Leid.« Sie sah schuldbewusst drein.
»In welche Richtung ist er gelaufen?«, fragte Andreas. Ihm war wieder so leicht ums Herz. Elisabeth war nichts geschehen, Gott sei Dank! Am liebsten hätte er sie umarmt.
»In Richtung Norden, die Breite Straße hinunter, und dann war er plötzlich verschwunden, nachdem er bemerkt hatte, dass wir ihn verfolgen«, sagte Elisabeth. Anne nickte und fügte hinzu: »Es war, als habe er sich in Luft aufgelöst.«
Andreas ging mit den beiden Frauen durch die zunehmende Dunkelheit zurück in die Bursgasse. An der Tür des Pastorats verabschiedete er sich von ihnen. »Ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte er und sah Elisabeth und Anne nach, wie sie hinter Grete im Innern des dunklen Hauses verschwanden.
Noch war die Breite Straße nicht mit der Kette versperrt. Andreas hastete über die vielen Pfützen, in denen sich der Mond spiegelte, der nun wie ein Wächter der nächtlichen Geheimnisse über den Dächern stand.
Die erste Straße links, die erste rechts: die Glockengasse. Vielleicht hatte er Glück. Es war eine von vielen Möglichkeiten, wohin Dulcken geflüchtet sein konnte.
Das prächtige Giebelhaus der Leyendecker’schen Familie fing in seinen Glasfenstern die Sterne ein, zeigte aber dem Mond den Rücken. Wie weiße Augen schauten die Himmelslichter aus den Fenstern. Hinter einem von ihnen, im ersten Stock, brannte ein Licht; ansonsten war alles still in diesem hohen Steinhaus mit seinen Rundbögen, Blendsäulen und Giebeln.
Das Tor zum Hof war noch nicht geschlossen. Andreas schlüpfte in die Schatten der Durchfahrt. Vor ihm erhob sich das Lagerhaus. Der schlichte, aber ausladende Backsteinbau war wie ein schwarzer Tierkörper. Das Gebäude wirkte auf Andreas wie etwas Totes. Die vielen Weinfässer darin waren eine flüssige Erinnerung an den Herbst des vergangenen Jahres, das Blut der verflossenen Tage.
Er machte einige Schritte in den Hof. Ein matter Schimmer drang von der Straße her, Schritte hallten an den Hauswänden entlang. Ein Schatten folgte einem Leuchtmann, ein größerer Schatten glitt hinter den beiden an den Häusern entlang, als wache er über die kleinen, zerbrechlichen Menschlein. Sie gingen am Durchgang vorüber; die Nacht floss hinter ihnen her. Bald waren auch ihre Schritte verhallt.
Andreas zog den Kragen des Priesterrocks enger um den Hals. Es war kalt geworden in dieser Frühlingsnacht. Er sah sich um. Was wollte er hier überhaupt? Hatte er wirklich erwartet, Dulcken auf diesem Grund und Boden zu finden? Andreas wollte bereits wieder gehen, als etwas Gleißendes seine Aufmerksamkeit gefangen nahm.
Es lag vor dem Tor des Lagerhauses. Er ging darauf zu, bückte sich und hob es auf. Es war ein in Silber gefasstes Amulett, das eine Hand darstellte. Der Daumen steckte zwischen Zeigefinger und Mittelfinger. Ein Amulett gegen den bösen Blick.
Ein Amulett, wie Dulcken derer viele an seiner Kleidung trug.
»Das bedeutet nichts Gutes«, sagte Elisabeth leise, nachdem sie Andreas’ Geschichte gehört hatte. Sie unterhielten sich gedämpft in der Sakristei von Sankt Kolumba, denn sie wollten Pfarrer Hülshout aus dem Weg gehen. Der alte Priester hatte die beiden Frauen empfangen, als Grete sie gerade nach oben führen wollte, und ihnen nahe gelegt, endlich das Pastorat zu verlassen. Ihre Anwesenheit sei unziemlich und lenke Andreas Bergheim von seinen Pflichten ab. Elisabeth und Anne hatten daraufhin vor der Tür auf Andreas gewartet. Zur Besprechung des weiteren Vorgehens hatten sie sich in die Sakristei zurückgezogen.
Der beinahe quadratische Raum wurde von einem Kreuzrippengewölbe getragen, das auf einer einzigen stämmigen Säule ruhte. Er war in Dunkelheit getaucht; nur eine Kerze auf dem Tisch, auf dem einige der Paramente ausgelegt waren, spendete etwas Licht. Golden glänzten Kelche und Ziborien, Beschläge von Messbüchern und die Stickereien der Gewänder. Der Kerzenschein flackerte über ein kleines Altarbild auf dem Tisch, das vor einem ruhigen Goldgrund die zart gemalte Begegnung von Maria und Elisabeth darstellte.
Elisabeth warf einen Blick auf das Bild, das von unirdischem Glanz erhellt schien, und dachte daran, wie das Kind im Leib der alten Frau gehüpft war, als es die Nähe des Erlösers spürte. Sie schluckte. Nie würde sie ein solches Gefühl erfahren. Andreas’ Worte rissen sie aus ihren Gedanken.
Читать дальше