»Alle? Dazu würdet ihr ein ganzes Jahr brauchen, denn unser heiliges Köln hat so viele Kirchen, wie das Jahr Tage hat.« Die Pförtnerin spielte an ihrem großen Schlüssel herum, als überlege sie, ob sie das Tor noch einmal aufschließen solle.
»Natürlich besuchen wir nur die Hauptkirchen«, sagte Elisabeth rasch.
»Und welche soll es heute Abend sein?«
»Sankt… Sankt Gereon.«
»Da müsst ihr euch aber beeilen, wenn ihr rechtzeitig zurück sein wollt«, warnte die Pförtnerin. Sie seufzte und steckte den Schlüssel in das Schloss.
Sie begannen in einer Herberge hinter Sankt Klaren. Das niedrige Fachwerkhaus mit den gekreuzten Balken wirkte dunkel und feucht. Die beiden angeblichen Pilgerinnen packten ihre Stäbe fester, als sie durch die Tür schritten. Wie sich diese Häuser doch gleichen, dachte Elisabeth. Was finden Männer bloß daran, hierher zu gehen? Hier gab es billigen Wein, gemischt oder gebrannt, und Bier, schlechtes Essen und billige Frauen. Wahrscheinlich waren die männlichen Bedürfnisse doch eher einfacher Natur. Sie traten auf die Schankmagd zu, die soeben von einem der Gäste auf den Schoß gezogen wurde. Sie quiekte auf und schien Gefallen an diesem Spiel zu haben.
»Wohnt bei euch ein Engländer?«, wollte Elisabeth wissen.
»Ein Engländer?«, lachte die Magd. »Hier wohnen nur richtige Männer.« Die Kerle lachten schallend, und derjenige, auf dessen Schoß sie saß, griff ihr an die großen Brüste. »Vielleicht habt Ihr in einem Kloster mehr Glück, so wie Ihr ausseht.« Rasch verließen die beiden Pilgerinnen dieses Haus.
Auch im nächsten und übernächsten mussten sie grobes Gelächter und Schmähungen über sich ergehen lassen.
Doch in einer kleinen Schankstube unweit des Augustinerklosters in der Kreuzgasse hatten sie Glück. Hier war es stiller, und der Wirt, der allein in der Stube war und seine wenigen, ruhigen Gäste bediente, erinnerte sich daran, dass sich ein Engländer mit einem wahren Feuerschopf und ein Deutscher, angeblich sogar ein Kölner, im Haus Schönefrau auf dem Berlich einquartiert hätten. Der Wirt lachte: »Dort sitzen sie jetzt angeblich schon einige Zeit. Wird ein nettes Sümmchen Geld kosten, denn die schönen Frauen sind im Preis inbegriffen.«
Als Elisabeth und Anne wieder auf der Straße standen, mussten sie sich sputen, ins Kloster zurückzukommen. Auf dem Weg dorthin erklärte Elisabeth ihrer Freundin, dass das Haus Schönefrau ein stadtbekanntes Bordell war, in dem sie – zumal in ihrer Verkleidung – keinen Einlass erhalten würden.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Anne, während sie neben Elisabeth her hastete.
»Wir brauchen Unterstützung«, antwortete diese.
Früh am nächsten Morgen klopfte es an Elisabeths Zellentür. Es war die Nonne, die ihnen die Zimmer zugewiesen hatte. »Ihr habt Besuch. Holt Eure Schwester in Christo, nehmt all Eure Habseligkeiten mit und folgt mir ins Parlatorium.«
Elisabeth packte verwundert ihr Bündel, setzte die Pilgerhaube auf und ergriff ihren Stab. Sie nahm Anne mit, und zu dritt machten sie sich auf den Weg durch die kalten, feuchten Klostergänge, bis sie im Sprech- und Besuchsraum des Konvents, dem Parlatorium, standen. Elisabeth wollte ihren Augen kaum trauen.
Vor ihnen stand Andreas Bergheim, noch in sichtlich schlechter Verfassung, aber immerhin aufrecht und durchaus munter. Er ging mit raschen Schritten auf Elisabeth zu und umarmte sie kurz und keusch. Dann wiederholte er diese Begrüßung auch bei Anne. Die Nonnen schauten ihm mit gerümpfter Nase zu. Andreas trat wieder einen Schritt zurück und sah die beiden Frauen an. Das rechte Auge war immer noch geschwollen, aber er konnte wieder mit ihm sehen, und die Wunde an der Schläfe war verschorft. Er atmete noch etwas schwer. »Ich habe der Oberin bereits erklärt, dass ihr Gäste in meinem Haus sein werdet.«
»Aber… Pfarrer Hülshout…«, stammelte Elisabeth.
»Er ist einverstanden, dass ihr beiden ein leeres Zimmer unter dem Dach erhaltet. Ich nehme an, Ihr wollt nicht zu Eurem Mann zurückkehren, Elisabeth.«
Sie nickte. »Wir haben etwas erfahren«, sagte sie vorsichtig und schielte hinüber zu der Nonne, die ganz Ohr zu sein schien.
»Gehen wir«, sagte Andreas und bedankte sich bei der Nonne für ihre Freundlichkeit. Elisabeth war froh, als sie die Klostermauern hinter sich gelassen hatte.
Auf dem Weg nach Sankt Kolumba berichtete Elisabeth, dass sie Annes Ehemann gefunden hatten, wenn man dem Wirt, den sie gefragt hatten, glauben konnte. »Es wäre aber wohl nicht gut, wenn wir allein versuchen würden, seiner habhaft zu werden.«
»Also werden wir uns an die Büttel wenden«, sagte Andreas, während Grete ihnen widerwillig die Tür öffnete. »Gleich morgen.«
Wieder eine Kammer, wieder ein fremdes Bett, wieder unter dem Dach. Elisabeth kam sich vor, als laufe ihr Leben in der letzten Zeit nach einem unerbittlichen Muster ab. Nachts, nebeneinander im Bett, fragte Elisabeth leise, ob Anne Angst vor der Begegnung mit ihrem Mann habe.
»Ja«, hauchte sie.
»Aber wir werden nicht allein sein«, versuchte Elisabeth sie zu beruhigen.
»Was wird mit ihm geschehen, wenn die Büttel ihn mitnehmen?«
»Er wird ins Gefängnis geworfen.« Sie hörte Annes leises Schluchzen. »Trauerst du etwa um diesen Mann?«, fragte Elisabeth verständnislos.
»Es sind die Erinnerungen an die besseren Zeiten«, sagte Anne. »Es stimmt, dass ich mit dieser Heirat nicht einverstanden war und Edwyn oft das Schlimmste gewünscht habe, aber jetzt, wo es ihm bevorsteht, tut er mir Leid.«
Elisabeth begriff gar nichts mehr. Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte zu schlafen.
Am nächsten Morgen machten sich die drei auf zum Rathaus hinter dem Alten Markt. Andreas hatte für die beiden Frauen gewöhnliche Kleidung besorgt: Hauben, Ober- und Unterkleider, Schürzen, Wämser und Schuhe, die zwar nicht der letzten Mode entsprachen, aber durchaus bequem waren. Elisabeth fühlte sich wieder sicherer. Doch immer wieder schaute sie sich um, ob sie irgendwo ihren Mann oder einen seiner Handlanger entdeckte. Sie erkannte niemanden.
Als sie auf dem Rathausplatz standen, warfen sie einen raschen Blick auf den neuen, kaum sechzig Jahre alten Turm. Stolz und majestätisch reckte er sich in den wolkenverhangenen Himmel und kündete vom Stolz dieser Stadt und seiner Regenten. Wie der Dom, so war auch dieser Turm im neuen, luftigen Stil gehalten, der die Säulen und Pfeiler wie himmelwärts strebende Melodien wirken ließ. Andreas senkte als Erster wieder den Blick und schaute die beiden Frauen an. Anne erschien ihm als eine durchschnittliche, blasse Person, der er auf der Straße keinerlei Beachtung geschenkt hätte, doch Elisabeth begeisterte ihn. Während ihrer Abwesenheit hatte sie sich verändert. Sie war sicherer und mutiger, fester im Auftreten und beständiger geworden. Als sie bemerkte, dass er sie anschaute, schenkte sie ihm einen kurzen, freundlichen Blick und sah dann weg.
Der Eingang zum Rathausturm wirkte wie ein Kirchenportal. Der Erretter der Menschheit, Jesus Christus, wurde im steilen Bogenfeld von den Aposteln Petrus und Paulus flankiert, und daneben tummelten sich unzählige weitere Heiligenfiguren auf Bildkonsolen, so weit und hoch das Auge blickte. Ganz oben, unter der Turmuhr, bewegte sich plötzlich etwas, das Andreas aus den Augenwinkeln sehen konnte. Er schaute hinauf und musste lächeln. Gerade schlug die Uhr die zehnte Morgenstunde, und der Platzjabbeck, der riesige, groteske Kopf aus Eichenholz, streckte bei jedem Stundenschlag die Zunge heraus. Wie wunderbar war diese Stadt, die auch an den erhabensten Gebäuden noch ihren milden Spott ausließ!
Im ersten Stock des Rathausturmes befand sich ein Durchgang zu einem Zwischentrakt, der als Prophetenkammer bekannt war. Darin führte eine Wendeltreppe hinunter zur Wachstube mit dem Offizierszimmer. Andreas führte die beiden Damen dorthin und wurde beim Stadtbüttel vorstellig. Der Büttel, ein stattlicher Mann mit einem schwarz schillernden Wams und einem ausladenden Bart, hörte die Beschuldigungen der Frauen schweigend an und holte dann zwei Untergebene, denen er befahl, die Frauen und den Geistlichen zu begleiten und den Engländer wegen tätlichen Angriffs auf die Geistlichkeit zu arrestieren. Die beiden Männer waren jung und wirkten mit ihren Brustpanzern und den großen Hellebarden recht draufgängerisch. Sie begleiteten die kleine Gruppe zum Haus Schönefrau auf dem Berlich.
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