In einem Gespräch mit dem Richter kurz vor dem peinlichen Verhör hatte Andreas erreicht, dass er bei der Folter Edwyn Palmers zugegen sein durfte, denn er kannte schließlich die Einzelheiten im Fall Ludwig Leyendecker. Auch Elisabeth hatte dabei sein wollen, aber der Richter hatte es ihr verwehrt.
Palmer war an einen Stuhl gefesselt, und der Nachrichter erklärte ihm gerade die Wirkungsweise der Beinschrauben, die ihm langsam die Waden zerquetschen würden, und der Daumenschrauben, die ein Gleiches mit seinen Händen machen würden.
»Leugnet Ihr, Ludwig Leyendecker getötet zu haben?«, fragte der Richter mit seiner falschen, väterlichen Stimme.
»Jawohl«, antwortete Palmer fest. Schweiß stand auf seiner Stirn. »Ihr dürft mich nicht foltern.«
»Wenn es um Mord geht, darf ich alles. Ich bin jetzt für dich der liebe Gott, mein Sohn. Gleich wirst du reden. Nachrichter, ein paar Umdrehungen dürften in diesem Fall reichen«, meinte der Richter zu seinem Untergebenen. Dieser zog die kleinen Schrauben der Handfessel an, die innen mit spitzen Nägeln versehen war. Palmer schrie auf wie ein geschundener Hund. Blut quoll zwischen dem Metall hervor. Andreas wandte den Blick ab.
»Bleibst du bei deiner Aussage?«, fragte der Richter gütig und liebevoll.
»Ja!«
Weitere Umdrehungen entlockten dem Engländer Schreie, die Andreas nie für möglich gehalten hatte.
»Und jetzt?«, säuselte der Richter und rieb sich die fetten Hände.
»Ja! Nein! Ich… ich…«
»Was wolltest du sagen? Ich bin ganz Ohr.« Mit freundlicher Miene beugte sich der Richter dem englischen Kaufmann entgegen.
»Er war… schon tot.«
Andreas schoss herum. Sah Palmer an. Begriff nicht. »Schon tot?«, fragte er heiser. »Ihr wart bei Leyendecker?«
»Ja«, keuchte Palmer.
»Wie schade«, meinte der Richter. »Ihr Engländer seid einfach verweichlicht. Wir haben doch gerade erst angefangen. Ich hätte deiner Freundin, die heute nicht hier sein kann, gern berichtet, dass du dich in unaussprechlichen Qualen gewunden hast. Wie ihr das wohl gefallen hätte?«
Andreas wäre diesem Richter am liebsten an die Gurgel gesprungen. Wie gern hätte er ihn an der Stelle des Engländers gesehen – und wie gern hätte er selbst die Schrauben angezogen! »Was habt Ihr mit Leyendecker gemacht?«, fragte Andreas, um sich von seinen sündigen Gedanken abzulenken.
»Nichts«, keuchte Palmer und schaute entsetzt auf das Blut, das von seinen Fingern herabtropfte. »Ich wussten, dass er hat besprungen meine Anne. Ich wollte den Mann töten, ich gebe zu. Ich musste reisen nach Köln, war gute Gelegenheit. Bin nachts eingedrungen in das Haus, weil schwierig ist, an den Mann allein heranzukommen.« Er verstummte und schien wegen des Blutverlustes ohnmächtig zu werden. Sofort war der Nachrichter bei ihm und schlug ihm heftig ins Gesicht. Palmer kam wieder zu sich.
»Was ist geschehen, nachdem Ihr das Haus betreten hattet?«, fragte Andreas hastig.
»Ich habe mich verborgen in dem Keller, aber kam jemand, und war kein guter Ort dort. Ich hatte keinen Plan, nur immer den Mann gesehen, der mit mir so viele gute Geschäfte gemacht, wie er liegt auf meiner Anne. Ja, ich wollte ihn umbringen. Aber nicht wusste, wie. Bin geschlichen durch die Haus, und dann habe gehört seltsame Geräusche von weit, weit oben. Laute Stimme, Poltern. Licht, wie von eine Kerze. Kam jemand herab die Treppe. Habe mich versteckt, als er gegangen ist an mir vorbei.«
»Wer?«, unterbrach ihn Andreas.
»Nicht habe gesehen. Vielleicht eine Mann, aber bin mir nicht sicher. Wollte schon ihn anfallen, weil ich geglaubt, es ist Ludwig. War seine Stimme, die laute, die ich gehört. Aber etwas an die Mann, die herunterging, war unheimlich. War so leise, wie wenn er schwebt. Nicht ganz auf der Erde ist. Wie eine Geist.« Palmer zitterte. Der Richter schaute ihn neugierig an; das Lächeln schien auf seinem Gesicht festgefroren zu sein.
»Und dann?«, wollte Andreas wissen. Er spürte, wie seine Handflächen vor Aufregung feucht wurden.
»Dann bin ich gegangen nach oben«, fuhr Palmer fort. »Ganz nach oben. Bis unter die Dach. Da habe ich ihn gesehen. Ludwig hatte sich erhängt an die Dachbalken.«
Andreas hatte den Atem angehalten. Er wischte sich die schweißnassen Hände am Gewand ab. Sagte der Engländer die Wahrheit? Wenn seine Aussage richtig war, wer war dann der geheimnisvolle Schatten auf der Treppe gewesen?
Andreas hatte erreicht, dass der Engländer nach seiner Aussage nicht mehr gefoltert wurde. Doch der Richter wollte ihn wegen seines Überfalls auf den jungen Geistlichen weiterhin in Haft behalten. Edwyn Palmer schien von Johannes Dulcken, den er von früheren Geschäften her kannte, zur Bürgschaft für die Übernahme des Leyendecker’schen Handelshauses gebeten worden zu sein, hatte aber keine Ahnung, ob Dulcken möglicherweise etwas mit dem Mord an Ludwig zu tun hatte oder gar der Schatten war, den er die Treppe hatte herunterkommen sehen. Somit hatte sich Palmer als falsche Spur erwiesen, denn Andreas hielt seine Aussage für wahr. Er teilte sie den beiden Frauen mit, die bereits neugierig und ängstlich im Pastorat auf ihn gewartet hatten. Zuerst bezweifelte Anne die Worte ihres Mannes, doch es gab keinen Grund, ihnen zu misstrauen.
»Dann sind wir jetzt so klug wie zuvor«, meinte Elisabeth, während sie in der Wohnstube im ersten Stock saßen. Pfarrer Hülshout kam herein, blieb in der geöffneten Tür stehen und sagte scharf: »Andreas, es ist Zeit für die Vesper. Ich bitte dich, Gott nicht zu vernachlässigen.« Mit einem Blick auf die beiden Frauen fügte er hinzu: »Und es täte jeder christlichen Seele gut, zur heiligen Kommunion zu gehen.« Er sah Elisabeth eingehend an. In seinem Blick lagen Abscheu und Angst. Dann verließ er das Zimmer wieder.
Andreas seufzte, erhob sich und sagte: »Er hat Recht. Und es wäre gut, wenn ihr beide mitkommt und unserem Herrn die Ehre erweist, damit Pfarrer Hülshout euch weiterhin unter seinem Dach duldet.« Die beiden Frauen sahen sich an und nickten.
Andreas Bergheim zelebrierte die Messe in der Marienkapelle, die während der Umbauarbeiten notdürftig von der Baustelle abgetrennt war. Der mächtige Handelsherr Johann Rinck hatte den Bau dieser Kapelle aus eigener Tasche bezahlt und gemeinsam mit der Kaufmannsfamilie Dass eine Messstiftung eingerichtet. So gedachte Andreas auch in dieser Messe der Stifter und betete für ihr Seelenheil. Doch er war nicht ganz bei der Sache. Er leierte die lateinischen Gebete herunter, die in dem hohen Gewölbe einen hohlen Hall erzeugten, und dachte dabei über den Tod seines Freundes nach. Hinter seinem Rücken hörte er, wie sich die Gemeinde regte. Bei der kurzen Predigt, die er unvorbereitet halten musste, da er keine Zeit zu ihrer Ausarbeitung gehabt hatte, beschränkte er sich auf die kurze Darstellung einiger Höllenstrafen für die verschiedenen Sünden, die den Menschen so lieb waren. Aber anstatt diese Strafen in den glühendsten Farben auszumalen, führte er sie auf, als seien sie nichts anderes als Posten in einer kaufmännischen Rechnung. Als er zum Selbstmord kam, stockte ihm die Stimme. Falls Ludwig tatsächlich Hand an sich gelegt hatte, war er verdammt; daran führte kein Weg vorbei. Es war kein guter Stoff für eine Predigt, doch das Evangelium nach Matthäus vom Endgericht gebot dieses Thema: »Weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel bereitet ist und seinen Engeln.« Andreas sah, wie Elisabeth betreten zu Boden schaute und Anne ihr schwesterlich den Arm um die Schulter legte. Elisabeth rückte ein wenig von ihr ab, als fürchte sie die körperliche Berührung. Schon oft hatte Andreas diese Verhaltensweise bei ihr bemerkt. Er verhaspelte sich in der Aufzählung der Höllenstrafen, setzte erneut an, versprach sich abermals und beendete die Predigt unvermittelt. Dann trat er vor den Altar, hob die Hände und sprach die einleitenden Worte des Hochgebetes. Dabei war ihm, als beobachte ihn jemand.
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