Michael Siefener
Die magische Bibliothek
Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Dezember 2021
Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin
Titelbild, Innengestaltung und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski
ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-812-0
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-816-8
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»Es war offenkundig, dass etwas sehr Aufregendes geschah oder erwartet wurde; aber obgleich ich jeden meiner Reisegefährten fragte, keiner gab mir nur die kleinste Erklärung. Dieser Zustand der Aufregung hielt einige Zeit; schließlich konnten wir die östliche Passöffnung erkennen.«
So weit war es leider noch nicht.
Albert Moll saß im Nahverkehrszug nach Kyllburg in der Eifel und freute sich. Immer wieder sagte er die wenigen Zeilen aus Dracula still für sich auf. Seine Lippen bewegten sich dabei; er bemerkte es kaum. Ihm gegenüber saß eine ältere Frau mit weißen Haaren und einer randlosen Brille, hinter der sich die Runzeln um die Augen kräuselten wie die windgepeitschte Oberfläche eines Sees, wenn sie ab und zu einen fragenden und abschätzigen Blick auf ihren seltsamen Reisegefährten warf. Schließlich wandte sie den Kopf mit einer ruckartigen Bewegung ab und sah starr aus dem Fenster. Albert Moll folgte ihrem Blick.
Hinterhöfe, nass glänzende Straßen, die zögerlich das Neonlicht der Schaufenster festzuhalten schienen, Autos mit weißen und roten Leuchtfingern. Darüber ein dunkelgraues Tuch, das die Stadt bedrückte und nicht einmal eine Ahnung des Himmels schenkte. Ein trüber Frühlingsnachmittag, der wie die Drohung einer Nacht wirkte. Ein guter Tag für eine Flucht.
Was mochte ihn am Ende seiner Reise erwarten? Natürlich, er kannte den Grafen; er hatte ihn schon zwei- oder dreimal zusammen mit seinem Diener in der Kanzlei gesehen, doch noch nie hatte er ihn auf seiner Burg besucht. Auf dieser sagenumwobenen, verwinkelten, gewaltigen Burg mitten in der Eifel, wo Alberts Bruder schon mehrmals Gast gewesen war. Sein Bruder …
Albert seufzte und stand auf. Die Frau ihm gegenüber riss den Blick von der nasskalten, grauen Stadt los, die nach einem unverständlichen Tagtraum wie in Tränen gebadet schien, und sah ihren seltsamen Mitreisenden erneut von der Seite an. Sie beide waren allein in diesem muffig riechenden Abteil. Albert wäre es viel lieber gewesen, ohne Gesellschaft reisen zu können. Er wollte seine Träume nicht durch die Gegenwart eines anderen Menschen beschmutzen. Also holte er sich aus seinem Aktenkoffer, der auf den Gepäckstangen über ihm lag, einen Roman, den er sich für die Reise ausgesucht hatte.
Den Roman.
Dracula.
Etwas anderes kam für diese Reise nicht infrage.
»Bistritz, 3. Mai. München ab am 1. Mai 8:35 Uhr abends.«
Natürlich, es passte nicht exakt zu seiner eigenen Situation, aber auch er war ein Reisender in einer geschäftlichen Angelegenheit, kein Notar, sondern ein Rechtsanwalt. Und er war zum Schloss eines leibhaftigen Grafen unterwegs. Durfte man eine größere Übereinstimmung der Literatur mit dem Leben erwarten? Er erschauerte, als er sich die möglichen unmöglichen Abenteuer vorstellte, die ihn in jenem sagenhaften Schloss erwarten mochten.
Die Runzeldame kniff die Augen zusammen. Ihre und Molls Blicke trafen sich; beide schauten sofort wieder in eine andere Richtung. Ich bin ihr unheimlich, dachte Albert und freute sich darüber. Wenigstens wurde er einmal wahrgenommen. In der Kanzlei war das nicht immer so. In der Kanzlei …
»Wien am frühen Morgen des nächsten Tages …«
Er hätte viel darum gegeben, weiter als nur bis in die Eifel reisen zu dürfen – so weit, dass er sich selbst verlieren konnte. Nach Wien, nach Bistritz, in die Karpaten – oder nach Amerika, an die Ostküste, nach Arkham – oder nach Irland, zu Hodgsons Haus auf der Grenze. Er sah kaum die Buchstaben des Romans, die sich in einem seltsamen Muster vor seinen Augen auslegten. Das Rattern des Zuges wirkte ermüdend, einschläfernd.
Was blieb ihm, wenn er die Literatur nicht mehr hätte? Die Literatur des Unwirklichen, Überwirklichen, Fantastischen? Sie war sein einziger Rettungsanker in dieser Welt, die er nicht verstand und die ihn nicht verstand. Sie war der Hafen, in den er nach jedem grässlichen Tag in der Anwaltskanzlei zurückkehrte. Sie war der Weg in eine andere Welt, deren Schrecken seine kärgliche Wirklichkeit auszublenden vermochten. Manchmal träumte er von diesen papiernen Welten; manchmal rutschte ihm in der Kanzlei ein Zitat aus einem seiner Herzenswerke heraus, was seinem Bruder immer nur Anlass zu hohntriefenden Reden gab.
Wie großartig war doch sein Bruder! Einserjurist! Spezialist für Wirtschaftsrecht. Guru der Kanzlei; alle anderen Anwälte hingen an seinen Lippen. Aber er war in seinen beruflichen Entscheidungen gebunden. Gebunden an seinen unfähigen Bruder, der die Examina nur mit allergrößter Mühe geschafft hatte (das zweite hatte er wiederholen müssen), dem aber die Kanzlei zusammen mit seinem Bruder je zur Hälfte gehörte.
Albert musste lächeln. Es war ein weiser Entschluss seines Vaters gewesen, die Kanzlei zu gleichen Teilen an seine beiden Söhne zu vererben. Auch wenn Albert lieber Germanistik studiert hätte oder gar Schriftsteller geworden wäre, ermöglichte ihm sein ungeliebter Beruf doch ein angenehmes Auskommen und viel Geld für seine Bücher. Es gefiel ihm, dass sein Bruder in allen wichtigen Entscheidungen auf ihn angewiesen war. Und manchmal gefiel ihm auch der bodenlose Hass seines Bruders auf ihn. Auf ihn, den angeblichen Schmarotzer, den viel zu wohlhabenden Nichtstuer, den nutzlosen Tagträumer.
»… der Zug aber hatte eine Stunde Verspätung.«
Möglich; er war bereits mit einer halben Stunde Verspätung von Köln abgefahren und nun standen sie in irgendeinem Vorort auf einem Abstellgleis. Was war bloß los? Wie peinlich, wenn er nicht pünktlich in Kyllburg eintraf, denn dort wartete der Diener des Grafen auf ihn, um ihn weiter nach Fangenburg zu fahren.
Die Frau ihm gegenüber strich ihren geblümten Rock glatt und trommelte mit den Fingern auf der plastiküberzogenen Armlehne. Sie vermied es, Albert anzusehen; stattdessen tat sie so, als gäbe es da draußen etwas höchst Interessantes.
Da draußen: nass glänzende Fassaden. Vereinzelte Lichter in fernen Wohnungen. Hier und da ein gnädiger Baum, dessen Grün im klebrigen, noch mit aller Kraft an der schon lange vergangenen Nacht haftenden Licht kränklich blass wirkte. Ein Hinterhof, braun vor aufgewühlter Erde, mit einer Hühnerschar, die sich in schmutzig weißem Geflatter um etwas drängte, das man vom Abteil aus nicht erkennen konnte.
Ein Ruck ging durch den Zug; die Hydraulik heulte; die Räder quietschten. Der Hühnerhof und die Lichter in den fernen Wohnungen zitterten vorbei und waren verschwunden.
Das Ziel rückte näher. Die Burg. Der Graf.
Graf Dracula hatte ein einfaches Anliegen an Jonathan Harker gehabt, weswegen er ihn nach Transsylvanien bestellt hatte. Es war um den Erwerb eines Grundstücks in England gegangen. Albert Moll hingegen wurde auf die Fangenburg gerufen, um zusammen mit dem Grafen an dessen Testament zu arbeiten.
Er hatte diesen Auftrag von seinem Bruder erhalten, der erst gestern Morgen lächelnd in Alberts Büro im fensterlosen Souterrain der Kanzlei gekommen war. »Ich habe hier etwas Interessantes für dich, das deinen bizarren Neigungen eigentlich sehr entgegenkommen müsste«, hatte er gesagt und Albert die Bahnfahrkarten in die Hand gedrückt. »Mit dem Auto wäre es zwar bequemer, aber mein hinterwäldlerischer Bruder kann sich ja immer noch nicht entschließen, den Führerschein zu machen«, hatte er hinzugefügt. Er ließ nie eine Möglichkeit aus, Albert zu demütigen.
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