KAI PANNEN
Untergehende Welten
Streit um die Kleine Freiheit
Der Schritt über die Schwelle
Zu viel Fantasie
Verrückt, eindeutig verrückt!
Der Teddy-Test
Kein Held in seiner Welt
Marktstraße 35
Eine Dampflok außer Kontrolle
Das doppelte Elternhaus
Vaterrollen
Allein in der Burg
Geschwisterliebe
Das Ritterturnier
Alleingänge
Nachtwanderung
Die Johannes-Offenbarung
Und ewig lacht der Narr
Die Fahrt nach Hamburg
Das Laputa-Projekt
Das Spiel ist aus
Vermisst
Der Einbrecher
Johann verschließt die Pforte
Schokolade für Johannes
»Schroff und majestätisch erheben sich die mächtigen Hänge aus den unergründlichen Tiefen. ›La isla dolce‹, die süße Insel, wie sie von alters her im Volksmund genannt wird, die Heimat unzähliger Generationen von Inselbewohnern.«
Flo saß am Küchentisch und kommentierte gedankenverloren den Lauf der Dinge. »Aber nichts besteht für die Ewigkeit. Auch Felsen brechen mit der Zeit, mächtige Berge werden vom Wind abgetragen, ganze Inseln versinken im Meer. Da, die ersten Hänge lösen sich und rutschen unter lautem Getöse in die Tiefe. Sie reißen alles und jeden mit sich ins Verderben. Ganze Völker und Zivilisationen wurden so schon vom Schicksal verschlungen …«
»Was brabbelst du denn da vor dich hin?«, fragte Heidi abschätzig.
Flo fuhr erschrocken hoch und sah seine Schwester in der Küchentür stehen. »Ich betrachte das Werden und Vergehen einer Insel inmitten eines stürmischen Ozeans«, ließ er sie wissen.
»In einem Kakaobecher, der Herr Professor?« Heidi betrachtete mitleidig lächelnd ihren Bruder.
Flo stöhnte. Konnte seine ignorante Schwester nicht einmal einen kleinen Funken Fantasie aufbringen? »Klar, in einem Kakaobecher«, sagte Flo. »Ich hab gerade drei Löffel Kakaopulver auf die Milch geschüttet. Guck, sieht aus wie eine Felseninsel mit schroffen Vulkanbergen. Stell dir mal vor, wie dort an den steilen Hängen tropische Urwälder wachsen, Dörfer und Straßen entstehen. Für uns innerhalb von Sekunden, die für die winzigen Bewohner Jahrtausende bedeuten. Vielleicht leben wir ja selber auf so einer Kakaoinsel in einem riesigen Becher.«
Heidi schüttelte den Kopf. Das war typisch ihr Bruder. In einem Kakaobecher die Erde untergehen sehen! »Es ist Kakao. Du solltest ihn einfach umrühren.« Dann schnappte sie sich den Becher und nahm einen großen Schluck.
»Hey, das ist meiner!«, empörte sich Flo.
Woraufhin Heidi genüsslich den Rest austrank. Sie wischte sich über den Kakaomund und gab einen lauten Rülpser von sich.
In diesem Moment kam Gianna, Heidis beste Freundin, zur Tür herein. »Ups, stör ich euch beim Streiten?«
»Ich habe gerade eine ganze Welt verschluckt, samt Bewohnern und allem, was sonst noch dazugehört.«
»Hört sich ja lecker an. Aber hat bestimmt ’ne Menge Kalorien.« Gianna sah Heidi fragend an. »Und sonst so? Alles okay? Unser Kurs geht gleich los, bist du so weit?«
»Bist du zum Klettern nicht ein bisschen zu gestylt?«, fragte Heidi.
Gianna fuhr sich durchs Haar. »Wieso? Ist doch wie immer.«
»Ach ja, der Lennart«, hauchte Heidi mit einem übertriebenen Seufzer und fing an zu kichern.
»Lass das! Außerdem geht das deinen kleinen Bruder überhaupt nichts an.« Gianna drehte sich zu Flo um. »Wie wärs, Flo, willst du nicht lieber spielen gehen?«
»Eure Gesprächsthemen sind mir ohnehin zu banal!«, sagte er so herablassend wie möglich. »Ich hab Wichtigeres zu tun.«
»O ja, zum Beispiel in einen Kakaobecher starren«, lästerte Heidi.
»Das sind Studien für meinen Aufsatz zum Thema Erosion. Falls ihr überhaupt wisst, was das ist.«
Wenn Heidi und Gianna zusammen waren, ekelten sie Flo meistens fort. Da zog er es vor, selbst das Feld zu räumen, unter dem Vorwand, sich seinen Hausaufgaben zu widmen.
Er stapfte lautstark die Treppe hinauf, ging aber nicht in sein Zimmer, sondern schlich leise eine Etage höher. Dummerweise knarrte die eine Stufe der alten Holztreppe zum Speicher so laut, dass es bis nach unten zu hören war.
»Wolltest du nicht Hausaufgaben machen?«, rief Heidi aus der Küche.
»Geht dich doch nichts an!«
»Schon klar. Dann pass mal auf, dass du nicht so viel kaputt machst, sonst ist Papa wieder sauer, wenn er deine ›Hausaufgaben‹ sieht.«
»Kann er ruhig, ich mach schon nichts kaputt!«, rief Flo und betrat das große Zimmer im Dachstuhl. Da lag sie schlummernd vor ihm, die zauberhafte, weite Welt im Miniaturformat: Die Eisenbahnanlage, das Heiligtum seines Vaters. Flo liebte diese Welt mit all ihren winzigen bunten Details. Die Kleine Freiheit nannte sein Vater das Eisenbahnzimmer, das Flo eigentlich nicht alleine betreten durfte. Er setzte sich in den schweren Drehsessel in der Kommandozentrale, einer Aussparung inmitten der Anlage, von wo aus er diese Welt steuern konnte. Flo kannte fast jeden der unzähligen Schalter und Schieberegler.
»Hauptschalter auf on«, meldete er und überwachte mit ernster Miene, wie unzählige Kontrolllämpchen auf den Schaltpulten aufleuchteten. »Straßenbeleuchtung Klein- Rendsburg, Hohenfels, Niederdorf und Hintertupfingen aktivieren«, kommandierte er und drückte routiniert verschiedene Schalter. »Alle Systeme positiv.«
Es war immer wieder ein magischer Anblick, wenn ganze Straßen im Schein der kleinen Laternen aufleuchteten, die Fenster der Häuser erstrahlten und sich Autos in Bewegung setzten. Die Kommandozentrale war wie das Cockpit eines Flugzeugs, von dem aus er die Welt unter sich betrachten konnte. Manchmal aber tauchte er ganz nah an die Dinge heran und schaute genau hin. Dann überkam ihn jedes Mal das Gefühl, leibhaftig mitten in den kleinen Szenen zu stehen, die sein Vater über Jahre hinweg gebastelt hatte. Da gab es das Mehrfamilienhaus, das auf Knopfdruck zu brennen begann. Ein paar flackernde Lämpchen darin erzeugten den Eindruck, als loderten echte Flammen in den Zimmern. Sogleich machten sich mehrere Feuerwehrautos mit Blaulicht und Sirenen auf den Weg. An anderer Stelle jaulte die Alarmanlage einer Bank. Die Bankräuber rasten in einem silbernen Porsche davon, verfolgt von drei altersschwachen Polizeiautos. Auf der Kirmes nahe der Hochbrücke drehte sich ein buntes Kinderkarussell, farbige Lämpchen blinkten in Losbuden und aus der Geisterbahn drangen dumpf die Angstschreie der Besucher. Der Bahnhof von Klein-Rendsburg befand sich direkt vor der Kommandozentrale. Auf vier Gleisen warteten dort Züge auf ihre Streckenfreigabe.
»An Gleis 3 bitte zurücktreten. Der Zug fährt sofort los«, verkündete Flo. Er schaltete ein Signal auf Grün und ließ einen prächtigen ICE aus dem Bahnhof rollen. Auf einem zweiten Gleis ratterte ein langer Güterzug mit Containern, Tankwagen und Autowaggons.
»Meine sehr verehrten Fahrgäste, das Team von ICE 0815 begrüßt Sie an Bord unseres Zuges auf der Fahrt nach Nirgendwo. Über Ihre Anschlusszüge werden wir Sie gegebenenfalls informieren.«
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