»Ganz so ausführlich wollte ich es gar nicht wissen.«
»Übst du eigentlich genug?«, fragte Johann, sein Vater. »Ich hör dich nie spielen.«
Es konnte schon nerven, solche Fragen gestellt zu bekommen. Meistens kam sein Vater dann noch mit dem Vorwurf, wozu er so viel zahle, wenn sein Sohn offensichtlich nichts dazulerne.
»Na klar, jeden Tag eine halbe Stunde. Mindestens. Da bist du noch arbeiten«, flunkerte Flo.
»Kann einem echt auf die Nerven gehen, das ständige Geklimper«, kommentierte Heidi.
Typisch Heidi. Ständig musste sie an ihm herumnörgeln. Doch diesmal war er ihr dankbar, dass sie ihm mit dieser fiesen Bemerkung beistand.
»Immer noch besser als dein blödes Gedudel aus dem Handy«, konterte Flo.
»Dafür bist du wohl noch ein bisschen zu klein.«
»Kinder, verschont mich mit euren Streitereien! Räumt lieber den Tisch ab«, fuhr Johann dazwischen.
›Oh, oh, Schlechte-Laune-Alarm!‹, dachte Flo. Sein Vater hatte wohl mal wieder zu viel um die Ohren.
»Lief es im Laden heute nicht gut?«, fragte Tanja.
»Es lief so gut wie gar nicht. Vielleicht mal ein Kunde, der drei Schrauben wollte oder einen Handtuchhaken. Das wars dann aber auch schon. Die rennen alle in diesen bescheuerten Baumarkt. Wenn das so weitergeht, kann ich den Laden dicht machen.«
Die Familie Klein besaß mitten in der Innenstadt einen Eisenwarenladen mit dem Namen »Klein und Alt«. Er war tatsächlich nicht sehr groß und ein alteingesessenes Geschäft, in dem es Nägel, Schrauben, Unterlegscheiben, Dübel und alle möglichen anderen Sachen gab. Der Verkaufsraum war so vollgestellt, dass man sich darin kaum noch bewegen konnte. Die meisten Leute fuhren lieber bequem mit dem Auto zu dem neuen, großen Baumarkt. Flo verstand, dass das seinem Vater die Laune verdarb – aber musste er es unbedingt an seiner Familie auslassen?
»Also, wer räumt den Tisch ab?«, fragte Johann.
»Hab ich gestern. Flo ist dran«, sagte Heidi.
»Nö, nö, nö, ich hab heute schon den Müll rausgebracht!«
»Könnt ihr mal aufhören, euch wie Kleinkinder zu benehmen? Ich zähl doch auch nicht auf, was ich alles für euch mache.«
Besonders viel wäre da auch nicht aufzuzählen gewesen. Denn entweder stand sein Vater in seinem Laden oder saß im Arbeitszimmer über irgendwelchem Bürokram.
Johann stand mit säuerlicher Miene vom Tisch auf und öffnete die Spülmaschine. »Ich krieg die Krise!«, raunzte er und hielt den Griff der Spülmaschine in der Hand.
»Der wackelte schon seit ein paar Wochen«, sagte Heidi.
»Und keiner kommt mal auf die Idee, ihn wieder festzuschrauben?«, schnaufte Johann und stampfte in den Keller, um einen Schraubenzieher zu holen. In ihrem alten Haus gab es ständig etwas, das kaputt ging, und das verbesserte nicht unbedingt Johanns Laune. Doch als er kurz darauf wieder hochkam, war sein Blick noch grimmiger als zuvor.
»Wie oft muss ich noch sagen, dass die Sachen dahin zurück gehören, wo ihr sie herhabt?«
Heidi verdrehte die Augen. Das sagte der Richtige. Meist ließ doch Johann alles und überall liegen.
»In der Kleinen Freiheit müsste noch einer sein, falls den nicht auch schon jemand verlegt hat«, grummelte Johann.
Die Kleine Freiheit! Das Chaos auf der Anlage! Das hatte Flo komplett verdrängt. Sein Vater ging so gut wie nie in sein Eisenbahnzimmer, warum ausgerechnet heute?
»Ich hol ihn, dann brauchst du nicht nach oben«, versuchte er seinen Vater abzuhalten. Doch der stampfte bereits die Treppe hinauf und somit war Flo geliefert. Besser, er verschwand erst mal für eine Weile in seinem Zimmer, doch Tanja drückte ihm einen Wischlappen in die Hand, als auch schon Johann mit hochrotem Kopf von oben zurückkehrte.
»Was ist los? Wieder keinen Schraubenzieher gefunden?«, fragte Tanja.
»Wer hat sich an meiner Modelleisenbahn vergriffen?«, schnaubte Johann.
Flo wischte so heftig auf der Tischplatte herum, als wolle er ein Loch hineinreiben.
»Wieso, was ist denn mit deiner Eisenbahn?«, fragte Tanja.
»Die sieht aus, als hätten sich Godzilla und King Kong den ultimativen Kampf darauf geliefert.«
›Gute Idee eigentlich‹, dachte Flo und überlegte, wo er seine Godzillafigur hingetan hatte.
»Warst du das, Flo?«, fragte Johann.
Heidi grinste Flo von der Seite an.
»Die Anlage kaputt machen? Wieso sollte ich so etwas tun? Ich bin doch kein Kleinkind«, krächzte er.
»Na ja, da kann man geteilter Ansicht sein«, stichelte seine Schwester.
»Wer soll denn sonst da oben gewesen sein? Du etwa, Heidi?«
»Ich spiel doch nicht mit einer Eisenbahn!«, rief sie empört.
»Also, Flo, was hast du dir dabei gedacht?«
»Er hat doch gesagt, dass er es nicht war«, verteidigte Tanja ihren Sohn.
Johann grummelte und nahm eine Tafel Schokolade aus dem Küchenschrank. Das tat er öfter, wie man an seinem beachtlichen Körperumfang gut erkennen konnte. Als wolle er all seinen Unmut an ihr auslassen, brach er die Tafel grob in Stücke und steckte sich einen Riegel in den Mund.
»Ich schätze, es war Pietzke. Vorhin hab ich ihn aus dem Zimmer kommen sehen«, behauptete Heidi.
Flo dankte seiner Schwester innerlich dafür, dass sie ihm mit dieser kleinen Notlüge aus der Patsche half.
»Hat bestimmt mal wieder eine Maus über die Anlage gejagt.«
»So geht das nicht weiter. Ich werde die Anlage abbauen und verkaufen. Endgültig! Bevor der Rest auch noch zu Bruch geht«, brummte Johann.
Flos Magen krampfte sich zusammen, als er das hörte. »Papa, wieso das denn?! Ich dachte, ich würde sie einmal erben!«
»Hm«, war Johanns einzige Reaktion.
»Genau, warum überlässt du sie nicht lieber Flo, bevor sie nur sinnlos herumsteht?«, fragte Tanja.
»Weil sie dann am Ende so zerschrottet ist, dass ich sie auch gleich in die Tonne hauen kann. Es ist eine empfindliche Modellbau-Anlage, keine Carrera-Bahn!«
Flo war sauer und vor allem enttäuscht. Es war immer dasselbe mit seinem Vater und ihm. Er traute ihm einfach nichts zu.
»Wollen wir nicht zusammen was spielen?«, schlug Heidi vor, um die Stimmung zu retten. »Wie wärs mit ’ner Runde Mensch ärgere dich nicht ?«
DER SCHRITT ÜBER DIE SCHWELLE
Im Deutschunterricht nahmen sie gerade Gullivers Reisen durch und mussten als Hausaufgabe das erste Kapitel daraus lesen. Flo las gerne. Er lag auf seinem Bett und war tief in das Buch versunken. Gedankenverloren kraulte er seinen verschlissenen Teddy, alte Angewohnheit. Coole Jungs taten so was natürlich längst nicht mehr, aber wer sollte es schon erfahren?
Spielten coole Jungs in seinem Alter eigentlich noch Auto-Verfolgungsjagden? Oder mit Modelleisenbahnen? War das noch normal?
Immerhin gab es eine Menge Erwachsener, die sich für Modelleisenbahnen begeisterten. Dann hieß es halt nicht mehr spielen, sondern einem Hobby nachgehen. Sein Vater war auch kein Kind mehr gewesen, als er die Eisenbahnanlage ausgebaut hatte. Aber das war lange vor Flos Geburt gewesen. Wann hatte Flo zum letzten Mal gesehen, dass sich Johann mit seinem Hobby beschäftigt hatte? Er interessierte sich eigentlich schon lange nicht mehr für die Anlage. Das war natürlich keine Freigabe dafür, sie so zu verwüsten.
Flo klappte das Buch zu. Er musste die kleine Welt wieder in Ordnung bringen, alles wieder so herrichten, wie es vor dem großen Zugunglück gewesen war.
›Dann merkt Papa natürlich erst recht, dass jemand in der Kleinen Freiheit war‹, überlegte Flo. ›Aber andererseits freut er sich vielleicht auch, wenn alles wieder heile ist. Und ich kann ihm beweisen, dass ich alt genug für die Modelleisenbahn bin.‹
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