Als Erstes setzte er die verunglückten Züge zurück auf die Schienen und stellte die umgefallenen Bäume in Reih und Glied an den Straßenrand. Die kleinen Plastikfiguren positionierte er an ihrem angestammten Platz und dem bedauernswerten Herrn Müller setzte er mit einem Tröpfchen Kleber den Arm wieder an. Im Handumdrehen sah die Anlage wie vorher aus, als habe es nie ein großes Zugunglück gegeben.
Flo betrachtete sein Werk und war ein bisschen stolz auf sich. Jetzt, da alles wieder in Ordnung war, konnte er doch noch ein bisschen mit der Anlage spielen?
»Ich bin auch vorsichtig«, murmelte sein Spieltrieb.
»Das gibt nur wieder Ärger. Letztes Mal wollte ich doch auch vorsichtig sein«, mahnte ihn sein schlechtes Gewissen.
»Ach, krieg dich wieder ein, ich schalte auch keinen Strom ein.«
Um auf der Eisenbahnanlage nichts unnötig anzurühren, womöglich gar kaputt zu machen, nahm Flo das kleine Chevrolet-Modellauto aus dem Regal. Es war ein genaues Abbild ihres Oldtimers, der draußen unter dem Carport stand. Sein Vater hatte ihn irgendwann mal in dessen Kofferraum gefunden. Vom Maßstab her war das Modell zwar etwas zu groß für die Eisenbahnanlage, aber das störte Flo nicht weiter. Er schob den Wagen über die dicht bevölkerte Straße zwischen Konzertbühne und Fußballstadion und achtete darauf, kein Figürchen zu überfahren. Auf der breiten Landstraße gab er dem Chevi einen etwas zu kräftigen Schwung, sodass er in der nächsten Kurve auf der Wiese mit dem Bauern landete, der gerade seine Kühe melkte.
»Nichts passiert, alles in Ordnung!«, rief Flo, als säße er selbst im Wagen.
»Es ist doch immer das Gleiche mit dir, du Rowdy. Kannst du dich denn nicht einmal beherrschen?«, schimpfte der Bauer.
»Tut mir leid. Aber ich werde von einem Riesen verfolgt …«, entschuldigte sich Flo.
Das war eigentlich eine gute Idee, sich von einem Menschenberg, so groß wie Gulliver in Liliput, verfolgen zu lassen. »Aber lieber nicht auf der empfindlichen Modelleisenbahn«, mahnte das schlechte Gewissen.
»Hast recht. Ich spiele besser im echten Chevrolet weiter«, sagte der Spieltrieb.
In der Küche versorgte Flo sich mit ein paar Keksen und sah durchs Wohnzimmerfenster Heidi und Gianna in ihre Handys vertieft auf der Terrasse sitzen. Die Verfolgungsjagd musste kurz warten. Erst musste er sie mit einer kleinen Erfrischung in die Wirklichkeit zurückbefördern. Und so füllte er seine Wasserpistole, die er schnell aus seinem Zimmer holte.
Vorfreudig kichernd schlich er zur Haustür hinaus und öffnete sicherheitshalber schon mal die Fahrertür des Chevrolets. Vorsichtig blickte er um die Hausecke auf die Terrasse. Die beiden glotzten immer noch auf ihre Handys und bemerkten ihn nicht. Selbst schuld, wenn sie nichts mitbekamen. Als sie der harte Wasserstrahl traf, war es mit der Ruhe vorbei.
»Flo! Spinnst du jetzt total?«, schrie Heidi und sprang auf.
»Ey, mein Handy. Wenn das nass wird …!« Auch Gianna schoss vom Stuhl hoch und stürzte auf Flo zu.
Flo hatte natürlich mit dieser Reaktion gerechnet, rettete sich blitzschnell in den Chevrolet und verriegelte die Türen von innen.
»Komm da sofort raus und hol dir eine ab!«, brüllte Heidi und hämmerte gegen die Tür.
»Nö, keine Lust«, sagte Flo und zeigte ihnen ein hämisches Grinsen.
»Na warte. Wir haben Zeit. Lassen wir dich halt ein bisschen da drin schmoren! Du bist ja gut versorgt. Wenn du Durst hast, trink einfach deine Wasserpistole leer.«
Flo kicherte über seinen gelungenen Streich. Und als die beiden um die Ecke auf die Terrasse verschwunden waren, fiel ihm der Riese wieder ein, der ihm immer noch auf den Fersen war.
Mit quietschenden Reifen raste er davon. Wie bei einem Erdbeben erschütterten die Schritte seines Verfolgers den Boden. Die Tachonadel kletterte über die 100-Meilen-Marke. Doch der Gigant kam immer näher. Es gab nur noch eine Chance. Flo raste direkt auf den Kanal zu. Kurz hinter dem Strommast riss er entschlossen das Lenkrad herum, der Wagen schleuderte mit qualmenden Reifen bis fast zur Uferböschung. Der Riese aber stolperte in seiner blinden Wut über die Stromkabel. Es zischte und blitzte und vom Stromschlag betäubt, flog er in hohem Bogen in den Kanal. Flo brachte den Wagen sicher zum Stehen und genoss den Applaus der Leute, die aus ihren Verstecken heraus das Geschehen beobachtet hatten.
»Tja, mein lieber Gernegroß«, sagte Flo lässig, »wurde mal Zeit für so ein Bad, du müffelst ein wenig.«
Ein paar Seeleute schnappten sich dicke Schiffstaue und fesselten den bewusstlosen Riesen, bevor er auf ein Containerschiff verladen wurde.
Jetzt, da der Riese besiegt war, tauchte Flo wieder aus seiner Fantasiegeschichte auf. Ob er es wagen konnte, ganz leise die Tür zu öffnen und sich in sein Zimmer zu schleichen? Heidi und Gianna wurden doch bestimmt wieder von ihren Handys hypnotisiert.
Er zog den Türhebel, doch die Tür klemmte und ließ sich nicht öffnen. Normal für so ein altes Auto. Er drückte fester. Nichts. Sie bewegte sich keinen Spalt weit. Er versuchte es mit der Beifahrertür. Das Gleiche. Wie zugeschweißt. Ebenso die hinteren Türen. Aber wie konnte das sein? Unmöglich, dass sie alle gleichzeitig klemmten.
Dumpf drang von draußen ein leises Kichern zu ihm herein und im nächsten Moment erhoben sich Heidi und Gianna und grinsten durch das Seitenfenster. Gianna ließ eine Rolle Klebeband vor seinem Gesicht schaukeln.
»Zentralverriegelung«, kicherte sie.
»Das ist Freiheitsberaubung, lasst mich auf der Stelle raus«, schrie Flo.
»Würden wir ja, aber das Klebeband geht nicht mehr ab, ohne den Lack zu zerstören«, sagte Heidi mit gespieltem Bedauern.
»Wir müssen erst im Internet recherchieren, wie wir dich aus deinem Gefängnis befreien könnten!«, rief Gianna.
»Aber ich weiß nicht, ob du das überhaupt willst. Denn dann gibts ’ne hübsche Abreibung«, sagte Heidi. »Komm, Gianna, lass uns ein Eis essen gehen.« Die beiden verschwanden lachend um die Ecke des Hauses.
Flo saß da und platzte fast vor Wut. Die konnten was erleben, wenn er erst wieder raus war. Aber das Klebeband wirkte wie ein Stahlkorsett. Wenn sein Vater das sehen würde, wie sie seinen Oldtimer verschandelten! Er krabbelte zum Heckfenster und hielt Ausschau nach den beiden. Nichts. Die wollten ihn hier wirklich verhungern lassen. Wütend boxte er gegen die Rückenlehne. Die Rückenlehne, natürlich! Die war doch schon seit Ewigkeiten nicht fest montiert. Ein paarmal hin und her gerüttelt und tatsächlich, sie ließ sich auf die Rückbank klappen. Vor ihm tat sich der riesige Kofferraum des Chevrolets auf, wie eine geheimnisvolle Höhle. Wenn er jetzt von innen die Kofferraumhaube aufdrücken konnte, war er frei. Er krabbelte in den dunklen Hohlraum, drückte gegen die Kofferraumhaube und …
»Ha! Damit habt ihr blöden Gänse nicht gerechnet«, jubelte Flo, als sich die schwere Klappe quietschend einen kleinen Spalt weit öffnete. Um seinen geheimen Notausgang nicht zu verraten, wuchtete er die schwere Rückenlehne von innen wieder hoch. Dann holte er Schwung, um die Kofferraumklappe ganz zu öffnen. Doch als er ins Freie blickte, traute er seinen Augen nicht. Was war das für eine merkwürdige Welt um ihn herum? Auf jeden Fall nicht die Auffahrt zum Carport.
»Wir sollten ihn langsam wieder freilassen«, sagte Heidi.
»Wieso? Er ist doch gerade mal fünf Minuten da drin. Ich finde, er kann ruhig noch ein bisschen schmoren«, meinte Gianna.
»Na gut, aber nur noch ein paar Minuten«, sagte Heidi.
Kurz darauf trieb sie das schlechte Gewissen zurück zum Chevrolet. Leise schlichen sie sich an, um das Klebeband unbemerkt wieder abzuziehen. Dann wollten sie so tun, als wüssten sie von nichts und Flo für verrückt erklären. Sie hatten damit gerechnet, Flo vor Wut toben zu hören. Doch von drinnen kam kein Mucks.
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