»Vielen Dank«, sagte Paulus mit seiner seltsam hohen Stimme. »Der Graf erwartet Sie bereits.« Er schloss das Portal hinter Albert.
Schatten flossen aus allen Ecken in die große, sich über zwei Stockwerke erstreckende Halle, die von hohen, bunt verglasten Kirchenfenstern nur unzureichend erhellt wurde. Es dauerte eine kleine Weile, bis Alberts Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Ein gewaltiger Kamin wurde sichtbar, dazu eine ausladende lederne Sitzgruppe und mehrere Tische. Rechts und links des Kamins führte eine breite Treppe nach oben auf einen Absatz, wo sich ein zweiter Kamin und weitere Sessel befanden. In einer Rückwärtsbewegung kletterten die Treppen weiter hinauf in den ersten Stock.
Paulus geleitete den Rechtsanwalt nicht nach oben, sondern durch einen breiten Korridor mit Kreuzrippengewölbe in die Tiefen des Renaissance-Flügels. An den Wänden lehnten träge Rüstungen; dazwischen hingen altersdunkle Ölgemälde, deren Sujets nur noch undeutlich zu erkennen waren: Bei einigen schien es sich um Porträts zu handeln, bei anderen um fantastische Landschaften. Unter ihnen hockten mittelalterlich wirkende Truhen und Stühle.
Von außen mochte die Burg Ähnlichkeiten mit dem Schloss des Grafen Dracula aufweisen, doch hier drinnen herrschte eine andere, schwerer zu fassende, undeutlichere Atmosphäre, die indes keinesfalls weniger unheimlich war. Sie erweckte in Albert eine bestimmte Erinnerung, die er jedoch nicht zu fassen vermochte.
Seine Schritte und die von Paulus klapperten über den schwarzen Parkettboden einem unausweichlichen Ziel entgegen.
Plötzlich wusste er es.
Der Diener, das Haus, das Parkett, die Spitzbogenfenster und der Name des Hausherrn! Wie hatte Albert es nur vergessen können? Er befand sich mitten im Haus Usher aus der meisterhaften Erzählung Edgar Allan Poes. Hieß der letzte Spross des dekadenten Geschlechts Usher nicht Roderick? Nannte er nicht ein gewaltiges, unheimliches, totes Haus sein Eigen? Doch es war verwahrlost, während die Fangenburg einen tadellosen, höchst gepflegten Eindruck machte. Dennoch: Die Gemeinsamkeiten waren frappierend. Ahmte hier das Leben wieder einmal die Kunst nach – oder vergewaltigte Albert die Kunst, indem er sie in das unkünstlerische Schema des Lebens presste?
Der Diener öffnete mit einer Sanftheit, die schlecht zu seiner riesenhaften Gestalt zu passen schien, eine Tür am Ende des Korridors und meldete den Rechtsanwalt. Nun galt es. Nun konnte Albert dem Grafen – und der Wirklichkeit – nicht mehr ausweichen.
»Ah, Moll!«, dröhnte es aus der Ferne des riesigen Saales. »Kommen Sie näher!«
Albert trat ein; die Tür wurde hinter ihm sacht geschlossen. Zuerst war er von diesem Zimmer so überwältigt, dass er den Urheber der Stimme nicht sofort erkannte. Vier hohe, klarverglaste Spitzbogenfenster gingen auf das Dorf hinaus und wurden von ungeheuren, blutroten Damastvorhängen eingefasst. Zwischen den Fenstern und an allen anderen Wänden hingen unzählige Bilder in schweren, dunklen Goldrahmen. Dicke Teppiche bedeckten hier das Parkett; zwei Kamine an den Stirnseiten reichten über die ganze Breite des Raumes. Sessel, Sofas und Stühle standen scheinbar wahllos verteilt überall herum, doch wenn man genauer hinsah, bildeten sie Gruppen und Muster. Zwischen den beiden mittleren Fenstern hockte ein ausladender Schreibtisch mit kühn geschwungenen Beinen, die den Eindruck erweckten, als könnten sie jederzeit losspringen.
»Ich hoffe, Sie sind gut untergebracht, Moll.«
Die Stimme kam vom Schreibtisch her. Erst jetzt bemerkte Albert den kleinen Mann, der hinter dem polierten, zum Sprung bereiten Holz kauerte.
»Vielen Dank«, antwortete Albert und ging auf den Schreibtisch zu.
Graf Roderich von Blankenstein glitt um das Möbel herum und rollte vor den Rechtsanwalt.
Einen größeren Kontrast zum aristokratischen, schmalgliedrigen, leichenblassen Roderick Usher konnte es kaum geben. Der Graf war dick, klein, ungeschlacht, hatte grobe Gesichtszüge, die ihn eher wie einen Metzger als wie einen Adligen wirken ließen, und einen fast völlig kahlen, gewaltigen Kopf, dessen Röte an manchen Stellen ins Bläuliche hinüberspielte. Die fleischige Nase wucherte vor wie ein Geschwür.
Und er saß im Rollstuhl.
Albert streckte die Hand aus; der Graf ergriff sie kurz und drückte sie mit großer Kraft. Als er sie losließ, hatten sich rote Striemen in Alberts Haut eingegraben.
»Setzen Sie sich, Moll.«
Albert hasste diese Anrede. Es klang, als sei er noch immer ein linkischer Schüler. Doch er gehorchte und nahm in einem der englischen Ledersessel Platz. Er sank so tief in das knarrende Polster ein, dass sein ganzes Blickfeld plötzlich nur noch aus apfelgrünem Leder zu bestehen schien.
Der Graf rollte mit einigen heftigen Armbewegungen vor ihn und sagte: »Ich dachte mir schon, dass Sie es sind, der mein Testament aufsetzt. Ihr Bruder ist ja immer sehr beschäftigt. Er ist ein so hervorragender Jurist.«
Das war ein dezenter Tiefschlag. »Warum haben Sie dann darauf bestanden, dass nur einer von uns beiden Ihr Testament aufsetzen soll?«, fragte Albert gereizt.
Der Graf lachte und schlug sich auf die Schenkel. »Oho! Der sonst so stille Windschattenanwalt gibt Widerworte! Das gefällt mir außerordentlich. Ich sehe, wir werden gut miteinander auskommen. Ich kann Ihnen sagen, warum ich nur einen von Ihnen beiden haben wollte, mein Lieber. Es könnten persönliche Dinge zur Sprache kommen, die ich sonst niemandem anvertrauen will. Aber freuen Sie sich denn nicht, dass Sie die Gelegenheit zu diesem Ausflug der Sonderklasse erhalten haben? Wann sieht jemand wie Sie schon eine solche Burg von innen? Wollen Sie sie denn nicht besichtigen?«
Albert spürte, wie seine Wut auf diesen Krüppel immer stärker wurde. Woher nahm der Graf das Recht, ihn fortwährend zu beleidigen? »Natürlich möchte ich sie mir mit Ihrer gütigen Erlaubnis gern ansehen, aber sollten wir nicht zuerst an die Arbeit gehen?«
»In meinen vier Wänden stehen Sie unter meinem Befehl, Moll! Wenn ich sage: ›Arbeiten!‹, dann arbeiten Sie. Wenn ich sage: ›Besichtigen!‹, dann besichtigen Sie. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Der Graf röhrte vor Lachen. Dann schrie er: »Paulus!«
Sofort wurde die Tür leise geöffnet und der Diener trat ein.
»Eine Burgführung für unseren Gast!«, rief Graf Roderich. Er beugte sich zu Albert vor und flüsterte: »Diese Burg enthält zahlreiche Seltsamkeiten. Sie befinden sich hier im Zentrum eines ganzen Kosmos voller Ungeheuerlichkeiten.« Und wieder stieß er sein unangenehmes Lachen aus.
»Das Ungeheuerlichste von allem sind Sie«, hätte Albert ihm beinahe entgegengeschleudert. Er beherrschte sich nur mit Mühe. Wo waren jetzt seine kindischen Fantastenträume geblieben? Zu nichts waren sie zerstoben angesichts dieses widerlichen Menschen, dem Albert nicht einmal wegen seiner Lähmung eine gewisse Sympathie entgegenzubringen vermochte.
Paulus schob den Rollstuhl hinaus; Albert folgte den beiden. Zuerst begaben sie sich in die mächtige Halle. Am Fuß der Treppe stand ein kleiner Lift, der am Geländer entlang hochführte. Paulus hievte seinen Herrn scheinbar mühelos in den schmalen Sitz des Liftes. Der Graf legte einen Schalter um und der Lift setzte sich in Bewegung. Auf dem ersten Absatz hielt er an. Paulus war mit dem Rollstuhl in den Händen hochgeeilt und fuhr den Grafen zum zweiten Lift am gegenüberliegenden Ende des Absatzes. Von dort aus ging es hinauf in den ersten Stock. Graf Roderich führte Albert etliche Korridore entlang, wobei Paulus bisweilen den Rollstuhl über einige Tritte heben musste, wenn sich das Niveau des Bodens änderte.
Albert sah Gästezimmer, die ein wenig verwahrlost wirkten und häufig von dicken Staubschichten überzogen waren, und Schlafzimmer, von denen eines das Kaiserzimmer genannt wurde, weil angeblich Kaiser Karl V. einmal in dem riesigen Himmelbett genächtigt hatte. An vielen Wänden klebten schwarze, feuchte Flecken, die dem gepflegten Eindruck, den das untere Stockwerk gemacht hatte, Hohn sprachen. Langsam verstand Albert, warum man hier keine Gäste unterbringen konnte. Also gab es wieder ein Geheimnis weniger. Aber gleichzeitig glich sich das Bild des Gebäudes langsam dem des Hauses Usher an.
Читать дальше