Niemand. Er war allein. Kein Mensch, kein Tier war auf der Straße zu sehen. Er sah sich um. Wo war er? Er konnte sich nicht erinnern, diese Gasse je betreten zu haben. Die Häuser waren ärmlich, bestanden ausnahmslos aus Fachwerk, der Boden war schlammig, ungepflastert und voller Pfützen, in denen Unrat und seltsam schillernde Flüssigkeiten schwammen. Nirgendwo war ein Glasfenster zu sehen; die Wände waren mit grobem Lehm ausgeschmiert, die Balken vermodert und die Türen wie zahnlose Münder, die in jenseitiges Dunkel führten. Der Regen schien jede Farbe ausgewaschen zu haben und legte ein graues Tuch über alle Gebäude. Kein Kirchturm, kein Patrizierhaus, kein Brunnen, kein steinerner Heiliger war weit und breit zu sehen. Und diese Stille!
Nachdem Andreas ein wenig Luft geschnappt hatte, ging er vorsichtig einige Schritte weiter. Das Platschen seiner Füße durch die Pfützen war das einzige Geräusch. Allmählich ließen die Seitenstiche nach, und er bekam wieder Luft. Da hörte er hinter sich aufgeregtes, unregelmäßiges Trappeln. Er drehte sich um.
Dulcken und der Engländer!
Andreas lief los. Und musste feststellen, dass er sich in einer Sackgasse befand. Sie wurde von einem offensichtlich unbewohnten, verwahrlosten Haus versperrt, dessen Tür ungeheuer massiv war. Andreas zerrte daran, aber sie gab nicht nach. Er wirbelte herum.
Sie waren nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.
»Unser Pfäfflein kann schnell rennen«, höhnte Dulcken. »Gott scheint ihm Flügel verliehen zu haben. Edwyn, ich glaube, es ist der rechte Ort und Zeitpunkt, um unseren Naseweis zu seinem Herrn zu schicken. Er sollte unsere Pläne nicht durchkreuzen. Pech für ihn, dass er seine Nase in alles hineinstecken muss.«
Mit zwei Schritten war der Engländer bei Andreas. Der junge Geistliche wollte seine Haut so teuer wie möglich verkaufen, aber gegen den mächtigen Rotschopf hatte er das Nachsehen. Seine Welt versank in Schmerzen. Sterne explodierten vor seinen Augen, Blitze durchzuckten Körper, Arme und Beine. Seine Schreie wurden von Blut erstickt.
Das Letzte, was er hörte, war das laute Rufen eines Mannes. Dann wurde alles in seiner Umgebung schwarz. Die Welt hatte sich aufgelöst.
Es war eine traurige und stille Reise für den Kaufmannszug. Elisabeth versuchte immer wieder herauszufinden, ob sie noch verfolgt wurden, aber sie bemerkte nichts. Anne hockte ihr gegenüber in dem Wagen, in dem sie gemeinsam mit dem Kaufmann Jakob Gartzem gesessen hatten. Die Kutscher hatten das Gefährt wieder auf die Räder gestellt und notdürftig hergerichtet. Immer, wenn Elisabeth das Wort an ihre neue Freundin richtete, wandte diese den Kopf ab und starrte die Holzbohlen der Wagenwand an. Irgendwann gab Elisabeth auf und hüllte sich ebenfalls in Schweigen. Sie dachte über ihre Reise nach. Was hatte sie gebracht? Einen Hinweis auf Annes Mann als möglichen Mörder Ludwigs und einen Hinweis auf eine seltsame Verschwörung, über deren Ziel und Zweck nichts in Erfahrung zu bringen war. Und eine Vergewaltigung sowie die Flucht vor ihrem Mann, der offenbar so erzürnt darüber war, dass er gedungene Mörder hinter ihr hergeschickt hatte. Ferner für Anne eine kurze neue Liebe und deren jähes Ende. Beinahe sehnte sie sich nach ihrem ruhigen, wenn auch unbefriedigenden Leben zurück, das sie nun unwiderruflich verloren hatte. Der Tod ihres Bruders war auch für sie zum Verhängnis geworden.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Wie sollte sie Andreas Bergheim unter die Augen treten? Sie hatte sich vor ihrer Abreise nicht einmal von ihm verabschiedet, und sie brachte aus London nichts als wilde Mutmaßungen mit.
Endlich sahen sie in der Ferne die Türme der Stadt, die wie ein feines Spitzengewebe vom blauen Himmel herabzuhängen schienen.
Mit gemischten Gefühlen hielten sie beim Eigelsteintor. Die Stadtwachen durchsuchten die Wagen und überprüften die Waren. Die beiden Pilgerinnen ließen sie unbehelligt. Dann rollten die Gefährte durch die Torburg. Elisabeth konnte Annes Schweigen nicht mehr ertragen und hatte sich mit auf den Kutschbock gesetzt. Nun fuhren sie den Eigelstein entlang. Auf der rechten Seite lagen Gärten und kleine Weizenfelder; Gehöfte grenzten unmittelbar an die Straße, und kurz vor der Abzweigung der Weidengasse lag ein kleiner Weingarten, dessen Ernte eine recht gute Grundlage für Würzweine war oder zu Aqua Sabaudia, dem im Volksmund so genannten Schabau, gebrannt wurde. Der Anblick der Reben mit den winzigen Trauben, die aus der Ferne wie kleine Tintenflecken aussahen, erinnerte Elisabeth daran, wie ihr Bruder immer spöttisch auf diesen »sooren hungk« herabgeschaut hatte, der auch in anderen Gegenden des Stadtgebietes angebaut wurde, zum Beispiel auf dem Gereonsdriesch, im Schatten der mächtigen Kirche Sankt Gereon nahe der nordwestlichen Stadtmauer. Wie stolz war er immer auf seine besten Lagen des Weins von Rhein, Mosel und aus der Pfalz gewesen. Trotzdem hatte auch Ludwig bei Sankt Severin einen dieser Weingärten besessen, dessen Trauben hauptsächlich zur Herstellung von Branntwein dienten – ein kleiner, aber angenehmer Nebenverdienst, wie er immer lächelnd gesagt hatte, wenn er wieder einmal genüsslich einen kleinen Becher mit Branntwein in der Hand gehalten hatte.
Bald kamen das Langschiff und der Kran des Domes in Sicht. Elisabeth sank das Herz. Wie sollte ihr weiteres Leben aussehen? Zu ihrem Mann konnte sie nicht zurück. War er vielleicht schon wieder in Köln? Wenn er ein Schiff vom Stalhof nach Antwerpen und dort ein schnelles Pferd genommen hatte, konnte er bereits zurückgekehrt sein. Auf keinen Fall wollte Elisabeth es wagen, in die Rheingasse zu gehen.
Je näher sie dem Dom kamen, desto herrschaftlicher wurden die Häuser. Hier gab es keine bäuerlichen Anwesen mehr, und auch die Fachwerkbauten waren nicht länger in der Überzahl. Stattliche Steinhäuser mit Rundbögen und Glas in den Fenstern beherrschten das Straßenbild. Während draußen auf dem Eigelstein noch ein paar neugierige Kinder hinter dem Kaufmannszug hergelaufen waren, wurde er hier zwischen den großen Gebäuden und im Gewühl des Verkehrs nicht mehr beachtet. Elisabeth bat den Kutscher, kurz anzuhalten. Sie sprang vom Bock, ergriff ihren Pilgerstab und ihr Bündel und riss die Wagentür auf. »Wir sind da, Schwester Anne«, sagte sie. Anne stieg mit abwesendem Blick aus und stützte sich schwer auf ihren Stock, während sie zusahen, wie sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Niemand entbot ihnen einen Abschiedsgruß.
»Ich weiß, wohin wir jetzt gehen«, meinte Elisabeth. »Ich habe einen guten Freund, der ganz in der Nähe wohnt. Und ich glaube, unser Aufzug ist gut dazu geeignet, ihm einen Besuch abzustatten.«
Sie führte ihre Freundin, die noch völlig neben sich selbst zu stehen schien, durch die lärmenden Straßen Kölns, bis sie hinter Sankt Kolumba standen. Elisabeth klopfte an die Tür des Pastorats. Grete, die alte Magd, öffnete.
Sie erkannte Elisabeth zunächst nicht, sondern war sichtlich erstaunt, zwei etwas verstaubt wirkende Pilgerinnen vor ihrer Tür zu sehen. »Geliebte Schwestern in Christo«, sagte sie mit ihrer alten, hohen und salbungsvollen Stimme, »hier seid Ihr falsch. Bittet im Klarissenkloster hinter dem Kornhaus um Aufnahme.« Sie wollte die Tür bereits wieder schließen, als Elisabeth rasch einen Fuß zwischen sie und den Rahmen stellte und sagte: »Erkennt Ihr mich denn nicht? Ich bin Elisabeth Leyendecker. Ich muss sofort Andreas Bergheim sprechen. Es ist wichtig.«
»Das ist unmöglich.« Tränen traten in die Augen der alten Magd. »Bitte geht. Ihr habt meinem guten Herrn nichts als Scherereien gebracht.« Sie drückte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür, doch Elisabeth wich nicht zurück.
»Was ist geschehen?«, fragte sie. »Wir sind zwei gottesfürchtige Frauen. Warum wollt Ihr uns nicht zu ihm lassen?«
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