Diese Gelegenheit ließ auf sich warten. Die Beerdigung der Wittib, die noch in derselben Nacht gestorben war, war eine traurige Pflicht der nächsten Tage. Hinzu kamen zwei weitere Beerdigungen auf dem kleinen Kirchhof von Sankt Kolumba sowie eine Trauung, Predigtvorbereitungen, die täglichen Messen und sogar eine Vorlesungsvertretung für Pfarrer Hülshout an der Universität, wovor Andreas große Angst hatte, denn er hatte noch nie vor so vielen Menschen theologische Diskurse geführt. Die Vorlesung fand in der Aula theologica im Kapitelhaus hinter dem Dom statt, und Andreas brachte sie mit viel Stottern mehr schlecht als recht hinter sich. So kam er erst sechs Tage später dazu, Barbara Leyendecker einen Besuch abzustatten.
Er traf sie im Lagerraum für die Weinfässer an. Sie machte sich nicht die Mühe, ihn ins Haus zu bitten, sondern stellte sich breitbeinig vor ihn, stemmte die Hände in die Hüften und fragte: »Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?«
»Ich möchte mit Euch über einen gemeinsamen Bekannten von uns reden.«
Sie hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Die Kerzen an den Wänden des Weinkellers warfen zuckende Schatten auf ihr Gesicht. Tief hinten, in den Schatten, lagerten die Fässer, die über Wohlstand oder Untergang entscheiden konnten. Edle Weine vom Rhein, der Mosel, aus dem Badischen, aber auch aus Frankreich hatten den Ruhm und Reichtum des Leyendecker’schen Hauses begründet. Es hatte den Anschein, als wolle sie allein das Geschäft weiterführen.
»Ich habe in der letzten Zeit oft an Johannes Dulcken denken müssen«, begann Andreas und hielt inne. Noch immer schwieg sie. Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht; nichts gab ihre Gedanken preis.
»War er zufällig vor kurzem bei Euch?«
»Warum fragt Ihr das? Sucht Ihr immer noch den angeblichen Mörder meines Gatten?«
»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.«
»Muss ich das?«
»Ihr habt keine Verpflichtung, mir Rede und Antwort zu stehen. Aber vielleicht seid Ihr bereit, mit dem besten Freund Eures verstorbenen Mannes zu reden.«
Barbara Leyendeckers dunkelbraune Augen sprühten Feuer. »Darf ich nicht mehr selbst entscheiden, mit wem ich reden will?«
Andreas wand sich vor Unbehagen. »Natürlich dürft Ihr das. Ich habe mich bloß gewundert, was ein so armer Schlucker wie Dulcken bei einer so mächtigen und reichen Frau wie Euch zu suchen hat. Wie ich hörte, hat Euer Mann ihn ruiniert. Werdet Ihr ihm helfen?«
Barbara lächelte. »So kann man es ausdrücken.«
»Und wer war der Mann, der bei ihm war?«
»Bei ihm?« Eine beißende Kälte war in Barbara Leyendeckers Stimme gekrochen. »Habt Ihr mir nachgeschnüffelt?«
»Also gebt Ihr zu, dass Dulcken nicht allein bei Euch war. Ja, ich habe gesehen, wie er zusammen mit einem stämmigen Mann des Nachts in Euer Haus gegangen ist. Ich war zufällig in der Nähe.«
»Natürlich! Ganz zufällig! Was ist mit dir los, Pfäfflein? Du hast mir noch nie behagt. Ich war immer gegen Ludwigs Freundschaft mit dir. Vielleicht hast du ihn ja selbst auf dem Gewissen mit deinen moralischen Reden. Vielleicht willst du nur von eigenen Sünden ablenken, indem du dort Missetaten siehst, wo keine sind, und unschuldige Menschen in Verruf bringst!« Jedes Wort war wie ein Peitschenschlag für Andreas. Barbara war laut geworden; das Echo des Weinkellers warf ihre Beschuldigungen vielfach zurück. Die Fässer waren auf einmal wie schlafende, sich im Traum regende Riesen, die jederzeit erwachen und ihn überrollen konnten. Er sah die Schöpfkellen, die wie kleine Arme auf den Fässern lagen oder eher aus ihnen herauszuragen schienen; er sah die Krüge – gleich Warzen oder Geschwüren. Der Wein in den Fässern war zur Essenz böser Träume geworden. Andreas wurde immer kleiner. Er wandte sich zum Gehen und hatte Barbara Leyendecker schon den Rücken zugekehrt, als sie plötzlich sagte: »Du hast Recht, Dulcken war bei mir.«
Andreas drehte sich verblüfft um. Die Leyendeckerin grinste ihn an. »Was willst du nun damit anfangen, Pfäfflein?«, höhnte sie.
»Nichts, weil ich den Grund für diesen Besuch noch nicht kenne.«
Das Grinsen der Leyendeckerin wurde noch breiter. »Hast du wirklich geglaubt, dieser Besuch hätte etwas mit Ludwigs Tod zu tun?«
Andreas druckste herum. »Ja, also… nein… das heißt…«
»Du hast Recht. Es hatte etwas mit Ludwigs Tod zu tun. Sein Ableben war nämlich der Grund für diesen Besuch.«
Nun war es an Andreas, ein fragendes Gesicht zu machen.
Barbara Leyendecker fuhr fort: »Johannes Dulcken will mein Handelshaus übernehmen. Zwar bin ich nach den Gesetzen unserer Stadt dazu berechtigt, mein Haus allein zu führen, aber du hast keine Ahnung, wie schwer es für eine allein stehende Frau ist, sich im Geschäftsleben zu behaupten. Die Verhandlungen mit den Winzern, die Transporte, der Verkauf der Fässer, die Überwachung der Handelsgehilfen, die Kontore in London und Brügge – all das wird mir zu viel. Kurz: Ich will verkaufen.«
»An Dulcken?«, wunderte sich Andreas.
»Warum nicht? Er hat große Ahnung vom Weinhandel und allem, was damit zusammenhängt.«
Andreas erinnerte sich an die Kniffe und Schliche, die Dulcken ihm gegenüber erwähnt hatte, um den Wein besser und damit wertvoller zu machen. »Das glaube ich gern. Aber er hat kein Geld. Womit will er zahlen? Euer Haus ist sicherlich eine schöne Summe wert.«
»Das will ich meinen!« Barbara Leyendecker stellte sich vor das liegende Fass rechts neben ihr, öffnete den kleinen Deckel und schöpfte mit der Kelle ein wenig von der kostbaren Flüssigkeit in den bereitstehenden Krug. Daraus goss sie sich und Andreas je einen Becher ein. Sie hielt den Becher mit beiden Händen, nickte langsam, schien die Temperatur des kostbaren Saftes als richtig anzusehen. Dann hob sie den Becher an die Nase und schwenkte ihn ein wenig, damit die feinen Düfte aufstiegen. Schließlich kostete sie vorsichtig und lächelte. »Versucht ihn. Dann werdet Ihr den Himmel offen sehen.«
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte Andreas, als er den Becher entgegennahm und davon probierte. Es war ein wunderbarer Weißwein, der nie eine Honigwabe oder einen anderen Zusatz sehen musste, um ins Paradies zu führen. Welche Harmonie, welche Zartheit und Fruchtigkeit! Er lächelte und hatte Barbara ihre lose Rede bereits verziehen.
»Von dieser Qualität habe ich einiges hier lagern. Es mag sein, dass Menschen dafür morden würden. Natürlich haben wir auch den einfachen Wein, aber die Eisweine sind es, in denen ich die Zukunft unserer Zunft sehe. Schon jetzt schlägt man sich um meine besten Tropfen. Daher erwarte ich einen guten Preis für mein Handelshaus.«
»Und den will Dulcken zahlen?«, fragte Andreas ungläubig und nahm noch einen Schluck. Der süße, fruchtige Wein küsste seine Zunge und schmeichelte sich die Kehle hinab.
»Ja.«
»Wie?«
»Der Mann, der bei ihm war, will ihm einen Kredit geben. Er wird sein wichtigster Handelspartner in England sein. Edwyn Palmer ist sein Name.«
Elisabeth und Anne hatten in jener Nacht kaum Schlaf gefunden. Noch etliche Paare vergnügten sich nebenan, sodass Elisabeth andauernd an ihr erstes geschlechtliches Erlebnis mit ihrem Gemahl denken musste. Bei Anne schien es etwas anders zu sein, wie man aus ihren Seufzern schließen konnte.
Am Morgen waren sie beide so erschöpft, als seien sie es gewesen, die in der Nacht im Nachbarzimmer Dienst getan hatten. Mit dunkel umränderten Augen kamen sie in die Schankstube, in der Anton und drei weitere Männer noch schliefen. Beim Eintreten der Frauen regten sie sich und schlugen die Augen auf. Die drei anderen drehten sich sofort wieder um, nur Anton sprang erfreut von der Holzbank hoch und warf das graue Wolllaken weit von sich.
Читать дальше