»Ich weiß es nicht, aber morgen kann ich es in Erfahrung bringen. Wenn Ihr so lange hier bleiben wollt…«
»Wir können ja morgen wieder kommen«, schlug Elisabeth schnell vor.
»Vielleicht habt Ihr dann die Gelegenheit bereits verpasst«, lachte der Wirt und hielt sich den Bauch. »Wenn Ihr von Felix Streuvels etwas erfahren wollt, müsst Ihr ihm auch etwas geben. Zum Beispiel die ehrende Anwesenheit zweier wunderschöner, junger Pilgerinnen. Ich mache Euch einen Sonderpreis, und Ihr beiden bekommt eine Kammer ganz für euch allein. Einverstanden?«
Was blieb den Frauen anderes übrig? Sie nickten und packten ihre Pilgerstäbe so fest, als wären es Schwerter. Anton nickte ihnen aufmunternd zu. »Ich bleibe hier unten. Macht Euch keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht.« Er grinste.
Der Wirt führte die beiden Frauen unter das Dach und wies ihnen eine enge, fensterlose Kammer zu. Licht fiel nur durch die Spalten zwischen den Dachziegeln. Talglichter oder gar eine Kerze gab es nicht. »Gute Ruh«, sagte der Wirt und ging.
Das Tageslicht, das durch die Ritzen fiel, reichte gerade noch aus, um das breite, abgeschabte Bett und die offenbar mit Stroh gefüllte Matratze erkennen zu können. Das Laken aus grobem Leinen war nicht sonderlich sauber.
Als die beiden Frauen züchtig nebeneinander lagen und das Licht des Tages endgültig der Dunkelheit gewichen war, hörten sie von nebenan eindeutige Geräusche. Ein Bett knarrte, Keuchen und Stöhnen einer Frau mischte sich mit dem Grunzen eines Mannes.
»Ob das Anton ist?«, flüsterte Anne mit tiefer Abscheu in der Stimme. »Hättest du gedacht, dass er öfter hier verkehrt? Ich hatte ein ganz anderes Bild von ihm.«
»Ich auch«, gab Elisabeth zu. »Es macht mir immer Angst, wenn ich mich in einem Menschen so täusche. Er wirkte so lieb und unreif. So unschuldig und nett.«
»Was für ein Jammer«, flüsterte Anne.
Elisabeth hatte es schon seit einiger Zeit vermutet. Ihre Freundin schien ein Auge auf den schüchternen Jüngling geworfen zu haben, doch heute Abend hatte sie eine bittere Enttäuschung erlebt. Elisabeth verstand die Männer nicht. Sobald sich ihnen ein Weiberrock näherte, verloren sie den Verstand, oder besser: Sie dachten dann nur noch mit dem Körperteil, der den Frauen fehlte.
Nebenan war man zum quiekenden und kreischenden Höhepunkt gekommen, nun war Ruhe eingekehrt. Elisabeth drehte sich so weit wie möglich von Anne weg, die wieder ihr Nachtgewand übergestreift hatte. Ein saurer Geruch stieg Elisabeth in die Nase. Es war ihr eigener. Allmählich wurde es Zeit, dass sie sich wusch. Aber wo sollte sie das unbeobachtet in einem solchen Haus tun? Sie hatte das Gefühl, dass sich eine Schlinge immer enger um ihren Hals zog. Als sie an Anton dachte, beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. Er war nicht ganz der Mann, für den sie ihn gehalten hatte. Was war, wenn sie sich völlig in ihm getäuscht hatten? Wer war er in Wirklichkeit?
Der Weg zum Tod fiel Andreas immer noch schwer. Spät am Abend, er war schon zu Bett gegangen, hatte Grete, die alte Magd, ihn geweckt und ihm mitgeteilt, dass eines seiner Pfarrkinder, eine Witwe von beinahe achtzig Jahren, im Sterben lag und nach der letzten Ölung verlangte. Andreas hatte sich rasch angezogen, den neuen Familiaris geweckt und war mit ihm in das nächtliche Köln eingetaucht. Das Haus der Witwe befand sich in der Breiten Straße, doch diese war nach Einbruch der Dunkelheit mit einer Kette abgesperrt, sodass Andreas einen Umweg über die Glockengasse machen musste. Odilo, der Familiaris, leuchtete ihm mit der Laterne und führte ihn durch die stillen, finsteren Straßen. Nur ganz vereinzelt sah man hinter Fenstern und Häuten den flackernden Schein von Kerzen oder Talglichtern. Die Umrisse der hohen Steingebäude erinnerten an angefeilte Zähne, während die kleineren Fachwerkbauten, deren Fassaden in der Finsternis zu einer einförmigen Masse geworden waren, wie Zahnlücken in einem fauligen Gebiss waren.
Weit vorn tanzte ein Licht zwischen den Mauern der Glockengasse. Es kam näher. Andreas verlangsamte seinen Schritt. Der Familiaris bemerkte es und wartete auf den jungen Geistlichen. Andreas blieb neben ihm stehen. Es war sehr still in dieser Nacht, nicht einmal der Lärm des Wirtshauses an der Herzogstraße war zu hören. Es war, als sei diese Nacht aus Raum und Zeit gefallen. Nur das Licht da vorn tanzte über dem unebenen Pflaster und spiegelte sich in der Gosse. Es kam näher.
Langsam schälten sich drei Umrisse aus dem tintenschwarzen Dunkel, aber sie wurden dadurch nicht greifbarer. Irgendetwas an ihnen beängstigte Andreas. Er zischte Odilo zu, er solle das Licht löschen. Der Familiaris blies die Kerze in der kleinen Laterne aus, und gemeinsam drückten sie sich in einen Hauseingang und warteten darauf, dass die Schatten vorübergingen.
»Was soll das?«, flüsterte der Familiaris Andreas ins Ohr. »Warum gehen wir nicht einfach an ihnen vorbei?«
Andreas wusste es selbst nicht. Er gab keine Antwort.
Die drei wurden zu Menschen. Zu erkennbaren Menschen. Der mit der Laterne war einer der Leuchtmänner, die man sich mieten konnte, wenn man nachts eine Besorgung in der Stadt zu machen hatte. Den zweiten Mann kannte er. Es war Johannes Dulcken, der bankrotte Weinhändler. Seine über das ganze Wams verteilte Amulettsammlung glitzerte im Kerzenschein. Durch Dulckens humpelnden Gang klirrten die magischen Symbole bei jedem Schritt. Der dritte Mann war ein grobschlächtiger Baum von einem Kerl mit feuerrotem Haar und Armen wie Baumstämmen. Sie blieben stehen und klopften verstohlen an eine Tür. Rasch wurde ihnen geöffnet, und sie verschwanden im Innern des unbeleuchteten Hauses. Andreas atmete auf und wagte es, aus dem Hauseingang hervorzukommen. Nun erst sah er, welches Haus die drei betreten hatten.
Es war das prächtige Giebelhaus der Witwe Leyendecker.
Die alte Wittib stöhnte und jammerte schrecklich, als Andreas ihr, unterstützt von dem entsetzten Familiaris, die letzte Ölung spendete und die Beichte abnahm. Die Alte war noch bei klarem Verstand, und die Liste ihrer Missetaten war lang: Sie hatte über ihre Freundinnen gelästert, Marktfrauen übers Ohr gehauen, beim Spinnen Flachs unter die Wolle gemischt und viele ähnlich schwere Verbrechen begangen. Andreas hörte kaum zu. In Gedanken war er bei seinem Erlebnis in der Glockengasse. Was machte ein zum billigen Krämer verkommener Weinhändler des Nachts bei einer jüngst zur Witwe gewordenen Kauffrau? Man könnte sich so seinen Teil denken, doch wer war der vierschrötige Kerl? Was wurde im Leyendecker’schen Haus mitten in der Nacht verabredet? Welche dunklen Machenschaften waren da im Gange? Hatte es etwas mit Ludwigs Tod zu tun? Anstatt endlich klarer zu werden, wurde die Angelegenheit immer undurchsichtiger.
Er beeilte sich zu gehen, denn es war nicht seine Aufgabe, den Tod der Wittib abzuwarten. Dafür waren die wenigen alten Freundinnen zuständig, die bereits nebenan süßen Brei aßen und schwätzten. Auch der Familiaris war offenbar froh, dem Haus des Todes entrinnen zu können. Es schien seine erste Erfahrung mit dem wichtigsten Abschnitt des menschlichen Lebens zu sein. Auf dem Rückweg zu Sankt Kolumba kamen sie wieder am Leyendecker-Haus vorbei. Im ersten Stock brannte das ruhige Licht einiger guter Wachskerzen. Was mochte dort Geheimnisvolles zur Sprache kommen? Andreas schaute angestrengt nach oben, sah aber niemanden. Natürlich konnte er nicht einfach an das Portal klopfen und um Einlass bitten; er hatte keinen Grund für einen Besuch, erst recht nicht zu so später Stunde. Schweren Herzens ging er an dem Anwesen vorbei und dachte an Elisabeth. Er vermisste sie so. Sicherlich hätte sie gewusst, was nun zu tun war. Als Andreas wieder vor dem Pastorat stand, kam er sich wie ein Versager vor. Vielleicht hatte die Lösung des schrecklichen Rätsels ganz nahe vor ihm gelegen. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Barbara Leyendecker aufzusuchen und sie nach diesem nächtlichen Besuch zu fragen.
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