Die Gelegenheit war einfach zu günstig. Elisabeth rückte ihre Haube zurecht und nahm ihren Mantel, denn in London war es trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit noch empfindlich kühl, und verließ das Zimmer. Sie eilte mit leisen Schritten durch die Korridore des großen Gebäudes, begegnete vielen Kaufleuten, hörte hauptsächlich die rheinische Mundart und hoffte, von niemandem aufgehalten zu werden, der sie möglicherweise kannte. Die meisten Männer waren freundlich zu ihr. Einige zogen das Barett und nickten ihr höflich zu, doch niemand stellte sich ihr in den Weg.
Sie war froh, als sie endlich die holzgetäfelten Gänge und Zimmer hinter sich gelassen hatte und auf der Straße stand. Sie blickte nach rechts, nach links, wieder nach rechts. Die Thames Street, in der sie sich nun befand, war sehr breit und von Fuhrwerken aller Art verstopft. Ochsengefährte, Wagen mit edlen Pferden davor und sogar Hundekarren kämpften um jede Hand breit Platz. Kutscher riefen verärgert Worte, die Elisabeth nicht verstand, Fußgänger drängten sich überall dazwischen, wurden angebrüllt und brüllten zurück. Pferde schnaubten, Hunde kläfften, Schweine grunzten und quiekten auf, wenn sie getreten wurden. Die Häuser wirkten einfacher als in Köln. Sie hatten keine Giebel, sondern sahen wie abgeschnitten aus. Doch ihre Fenster waren groß, und viele trugen vornehme Verglasungen.
Wie sollte Elisabeth hier Edwyn Palmer finden? Ludwig hatte einmal gesagt, Palmers Haus läge unweit der Guildhall im Schatten von All Hallows, der Kirche des Bezirks. Rechts von ihr sah sie in einiger Entfernung einen Kirchturm über die Häuser ragen, den keine Spitze zierte – anders, als sie es von den alten spitzbedachten Kirchen in ihrer Heimatstadt gewohnt war, wenn man vom stummelig-unfertigen Dom absah. Sie schritt auf die Kirche zu. Ihre Tracht erregte Aufmerksamkeit. Feindselige Blicke trafen sie, manche waren sogar lüstern. Plötzlich fühlte sie sich sehr verloren und einsam. Sie kannte niemanden hier, niemand würde ihr zu Hilfe kommen, wenn sie überfallen werden sollte. Sie konnte sich nicht einmal verständlich machen. Würde dieser Palmer sie überhaupt verstehen? Ihr Bruder hatte fließend Englisch gesprochen, aber sie hatte keine Ahnung, ob Palmer des Deutschen mächtig war.
War es nicht eine gewaltige Dummheit von ihr gewesen, hierher zu kommen? Was erwartete sie von dieser Reise? Mit gesenktem Kopf ging sie voran. Irgendwo hier, entweder im Stalhof oder in dessen Umgebung, hatte Ludwig etwas Schreckliches erfahren. Lag darin überhaupt der Grund für seinen Tod? Als sie wieder aufschaute, sah sie knapp vor sich ein großes Weinfass an der Fassade eines heruntergekommenen Gebäudes hängen. Kein Schild verriet, wer der Besitzer dieses Hauses war. Die Fenster hatten keine Verglasung, sondern in den oberen Stockwerken nur dünne Lederhäute, die vor die Rahmen genagelt waren. Unrat klebte an den Mauern und lag vor der weit offen stehenden Tür. Von drinnen schallte lautes Grölen und Lachen heraus.
Es musste sich um ein Wirtshaus handeln. Ludwig hatte nichts von einem solchen öffentlichen Haus gesagt. Es konnte nicht das Palmer-Haus sein, aber vielleicht erfuhr sie ja drinnen etwas, denn bestimmt kannte der Wirt jeden Weinhändler in der Gegend. Elisabeth fasste sich ein Herz und stieg die wenigen, mit Stroh übersäten Stufen hinab zum Eingang der Schankstube.
Als sie den dunklen, stinkenden Raum betrat, wurde es leise. Jemand pfiff durch die Zähne, als sie mit zögernden Schritten auf den Wirt zuging, der hinter einem großen Weinfass hockte, auf dem etliche zerbeulte Zinnkannen standen. »Edwyn Palmer?«, fragte sie. »Wo kann ich Edwyn Palmer finden?«
Der Wirt erhob sich langsam. Seine lederne Schürze wies etliche dunkelrote Flecken auf. Er wirkte eher wie ein Fleischer.
Er brabbelte etwas, das Elisabeth nicht verstand, es schien kaum eine menschliche Sprache zu sein. Kurz darauf setzte schallendes Gelächter ein.
»Edwyn Palmer?«, fragte Elisabeth noch einmal. Sie kam sich unsagbar lächerlich vor.
Der Wirt grinste sie an, wie ein Käufer über eine besonders schöne und billige Ware grinst. Er nahm einen der Krüge auf, die offenbar gefüllt waren, und streckte ihn ihr entgegen.
Als sie noch überlegte, wie sie sich verhalten sollte, griff jemand von hinten um ihre Hüfte. Sie zuckte zusammen. Der Griff wurde fester. Das Lachen lauter. Sie versuchte sich zu befreien. Sie konnte ihren Angreifer nicht sehen, er stand unmittelbar hinter ihr. Seine Hände wanderten höher. Stahlen sich unter ihren Mantel. Fuhren grob an ihrem ganzen Körper entlang. Elisabeth war starr vor Entsetzen und Erniedrigung. Sie wollte um Hilfe schreien, doch nur ein Krächzen kam ihr über die Lippen. »She wants it!«, schrie jemand. »She’ll get it!« Sie verstand die Bedeutung der Worte nicht.
Plötzlich hielten die Hände inne. Versteiften sich. Er hatte es bemerkt. Und begriff.
»O Lord!«, ertönte es dicht hinter ihrem Ohr. Sie wurde weggestoßen. Das Gelächter verstummte. Sie drehte sich um. Sah ihren Angreifer an. Es war ein großer, stämmiger Mann mit einem zerrissenen Wams, einer großen Nase und wunderschönen blauen Augen, die vor schrecklicher Angst geweitet waren. Er hob abwehrend die Hände. »Witch!«, rief er. »Wicked Witch!« Alle Bewegungen in dem dunklen Schankraum erstarben. Entsetzt rannte Elisabeth auf die Tür zu. Niemand hielt sie auf. Sie hastete die Stufen zur Thames Street hoch und lief in Richtung der Guildhall, in die sie sich retten wollte. Mehrfach sah sie sich um, aber niemand folgte ihr. Die Leute auf der Straße warfen ihr verständnislose Blicke zu. Sie zwang sich, etwas langsamer zu gehen, und fühlte sich erst sicher, als sie an dem großen Portal der Guildhall klopfte und ihr der junge, linkische Mann mit dem zu kleinen Wams freundlich öffnete. Sofort suchte sie ihr Zimmer auf und verriegelte die Tür von innen. Sie warf sich auf das weiche Bett und weinte.
Das Wort, das der Wüstling ihr entgegengeschleudert hatte, war ihr ebenfalls unbekannt, doch es gab für sie keinen Zweifel, was es bedeutete.
Hexe.
Sie traute sich den ganzen Tag nicht, ihr Zimmer zu verlassen. Nur zum Abendessen ging sie hinunter in den großen Speisesaal und war erstaunt über den Prunk, der hier entfaltet wurde. An den holzgetäfelten Wänden hingen Ölgemälde und Teppiche mit allegorischen Darstellungen, und das Geschirr auf den Tischen war aus Gold und Silber. Ein älterer, kleiner Mann wies ihr einen Platz an einem der langen Tische an, und sie speiste in Gesellschaft von zwei Kaufleuten aus Köln, die im Eisenhandel tätig waren. Mit ihnen tauschte sie viele Geschichten aus ihrer Heimatstadt aus, während sie von den Schafswürsten mit Rosinen, dem Hühnerbraten mit goldrotem Eierüberzug und dem Entenbraten in saurer Rotweinsauce kostete und dazu einen vorzüglichen Hippocras trank. Ihr Gemahl war nirgendwo zu sehen. Vermutlich befand er sich auf der Jagd nach einem Käufer für seinen Wein.
Elisabeth vermied es sorgfältig, den wahren Grund ihres Aufenthaltes zu enthüllen, denn selbst diese beiden freundlichen Herren mit ihren guten Manieren und ihrem angenehmen Äußeren konnten am Tod ihres Bruders beteiligt gewesen sein. Sie durfte niemandem trauen. Wie sehr wünschte sie sich, dass Andreas Bergheim hier wäre. Sie könnte mit ihm das weitere Vorgehen planen, sie könnte sich mit ihm bereden, er könnte sie trösten und das schreckliche Erlebnis in dem Wirtshaus vergessen machen. Länger, als ihr lieb war, verweilten ihre Gedanken bei ihm. Bei seiner angenehmen Stimme, seiner Zurückhaltung, seiner Freundlichkeit, dem zart geschnittenen Gesicht mit den lieben Augen, der männlichen Gestalt… Sie zwang sich dazu, ihren Tischgenossen die gebotene Aufmerksamkeit zu schenken.
Nach dem vorzüglichen Essen begab sie sich wieder in ihre Kammer und wartete. Sie traute sich noch nicht, einen neuen Versuch zur Auffindung Edwyn Palmers zu unternehmen. Müde setzte sie sich auf ihr Bett, dann legte sie sich hin, und schließlich war sie eingeschlafen.
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