Durch einen Tränenschleier sah Elisabeth, wie eine junge, blonde Frau ohne Kopfbedeckung die wenigen Stufen in den Hof hinunterschritt. Dann hörte sie ein rumpelndes Geräusch von der Straße her. Kurze Zeit später bog ein Fuhrwerk in die Toreinfahrt und blieb im Hof stehen. Es versperrte Elisabeth die Sicht. Worte wurden zwischen der blonden Frau und dem Kutscher gewechselt. Sie hörte weitere Stimmen und viele Schritte, und körperlos scheinende Hände entluden den Wagen von der anderen Seite. Er hatte große Stoffballen geladen, Brokate, Leinen, Damast und Samte. Die Arbeit ging schnell und ohne viel Aufhebens vor sich, und bald hatte der Wagen den Hof wieder verlassen. Nur noch die blonde Frau stand dort und sah dem Fuhrwerk nach. Strähnen ihres Haares hatten sich aus dem Knoten am Hinterkopf gelöst und hingen ihr beinahe bis zum Kinn. Sie atmete schwer, sie schien mit angepackt zu haben. Elisabeth hatte nicht die Kraft, aufzustehen oder auch nur aufrecht zu sitzen. Angesichts der Normalität in diesem Kontorhaus erschien ihr die eigene Vergewaltigung in der vergangenen Nacht umso schrecklicher. Sie presste die Beine zusammen und schaute die junge Frau von unten herauf an.
Sie hatte Elisabeth endlich bemerkt und kam herbeigelaufen. Die rasche Annäherung machte Elisabeth Angst. Unwillkürlich streckte sie die Hände in einer abwehrenden Geste aus. Sie kam sich so schwach vor, so erniedrigt, sie konnte unmöglich mit Edwyn Palmer sprechen. Was hatte sie sich bloß eingebildet? Aber sie war hier und musste das Beste aus dieser Lage machen.
Die junge Frau sagte etwas zu ihr, das sie nicht verstand, und beugte sich zu ihr hinunter, ohne ihr aber zu nahe zu kommen. »Hilfe«, murmelte Elisabeth nur, als sie in die blauen, so sanften Augen der blonden Frau schaute.
»Ihr seid eine Deutsche?«, antwortete die Frau in Elisabeths eigener Sprache. In ihren Worten schwang der melodische Tonfall des Rheinischen mit. Elisabeth sah sie erstaunt an.
Elisabeth nannte ihren Namen und murmelte: »Palmer. Ich suche Edwyn Palmer.« Die Pflicht gegenüber ihrem toten Bruder war doch stärker als ihr eigenes Leid.
»Er ist mein Gemahl«, erwiderte die junge Frau. »Ich bin Anne Palmer.«
»Ihr seid keine Engländerin.«
»Nein, ich stamme aus Aachen. Darf ich Euch aufhelfen und ins Haus begleiten?« Sie streckte Elisabeth die Hand entgegen, die sie nun dankbar ergriff.
Anne Palmer führte sie in die Wohnstube, die weitaus ärmlicher war, als Elisabeth es in einem Handelshaus erwartet hatte. Es gab nur ein paar alte, wackelige Stühle und eine Truhe aus gerissenem Holz. Nichts außer einem Kreuz hing an den weiß gekalkten Wänden, und der Boden war nicht sauber ausgefegt.
Anne Palmer bot Elisabeth einen der Stühle an und sagte: »Ich hole Euch einen guten Rheinwein. Wartet einen Augenblick.« Schon war sie aus dem Zimmer geeilt.
Elisabeth versuchte sich zu beruhigen. Immerhin hatte sie Palmer gefunden. Vielleicht konnte er ihr bei der Suche nach Ludwigs Mördern weiterhelfen und sich heimlich im Stalhof umhören. Elisabeths Gedanken kreisten unablässig um ihren toten Bruder; es war eine gute Ablenkung.
Anne Palmer kam zurück und trug auf einem Tablett einen Krug und zwei irdene Becher. Einen davon drückte sie Elisabeth in die Hand und füllte ihn mit trübem Wein. Vorsichtig nippte Elisabeth daran. Der Wein war nur mit Honig vermischt, doch er wirkte belebend.
»Darf ich Euch fragen, was Ihr von meinem Mann wünscht?«, wollte Anne Palmer wissen und blickte Elisabeth neugierig, aber offenherzig an.
»Es geht um meinen Bruder«, begann Elisabeth, nachdem sie noch einen Schluck von dem gesüßten Wein genommen hatte, der ihr sehr gut tat. »Er hat Geschäfte mit Eurem Gemahl getätigt und war noch vor einigen Monaten hier. Er ist kürzlich verstorben. Verzeiht, wenn ich offen zu Euch bin, aber das würde ich lieber mit Eurem Gatten besprechen.«
Anne Palmer sah ihren Gast zweifelnd an. »Es tut mir Leid, aber Edwyn ist vor ein paar Wochen zu einer Reise aufgebrochen. Er wollte in Antwerpen Tuche kaufen. Offenbar ist er erfolgreich gewesen, denn die Lieferung vorhin stammt aus diesen Geschäften. Und danach wollte er nach Köln Weiterreisen und dort einige Zeit bleiben – wohl irgendwelcher anderer Geschäfte wegen.«
»Nach Köln?«, fragte Elisabeth ungläubig. War das reiner Zufall? Sie rutschte auf dem unbequemen, knarrenden Stuhl hin und her. Sollte sie dieser Frau vertrauen? »Wann kommt er zurück?«
Anne Palmer zuckte die Schultern und nahm dann einen tiefen Schluck aus ihrem Becher. »Ich weiß es nicht. Wir führen unser kleines Handelshaus zwar grundsätzlich gemeinsam, doch er sagt mir nie, wie lange er wegbleibt. Ich erwarte ihn aber kaum vor dem übernächsten Monat zurück.« Sie schaute Elisabeth, die wieder zu zittern begonnen hatte, mitfühlend an. »Hat Euch der Tod Eures Bruders so erschüttert?«, fragte sie mit milder Stimme.
»Ja, aber das… das ist es nicht allein«, murmelte Elisabeth und trank ihren Becher leer. Bevor sie bemerkte, was sie tat, erzählte sie dieser fremden Frau die leidvolle Geschichte der letzten Nacht. Als sie damit fertig war, fühlte sie sich etwas besser. Es tat so gut, mit einer Frau darüber sprechen zu können. Welch ein Glück, dass sie diese Landsmännin gefunden hatte. Ob Gott sie ihr geschickt hatte? Oder Andreas? Auch der Gedanke an ihren brüderlichen Freund tat ihr gut.
Anne Palmer hatte schweigend zugehört. Ihr Blick kündete von großem Entsetzen. Und von Verstehen.
»Euch ist Schreckliches widerfahren«, sagte sie schließlich mit belegter Stimme. »Ich kenne das nur allzu gut.«
Elisabeth sah sie dankbar an. Hier schien sie eine Freundin im Leid gefunden zu haben – hier in der Fremde, wo sie es niemals vermutet hätte. Und nun berichtete Anne Palmer ihre eigene Geschichte.
Sie stammte aus einem alten, aber verarmten Aachener Tuchhandelshaus und war vor fünf Jahren, als sie gerade fünfzehn geworden war, von ihrem Vater mit Edwyn Palmer, einem damals noch wichtigen Handelspartner, verheiratet worden. Das erste Jahr der Ehe war noch erträglich gewesen, doch dann hatte Palmer, der schon immer zu Zornesausbrüchen geneigt hatte, zu trinken und zu spielen begonnen, und sein Geschäft hatte stark darunter gelitten. Seinen Unmut ließ er immer öfter an seiner jungen, schönen Frau aus, und auch sie kannte inzwischen die Schrecken des Ehelagers nur allzu gut. »Ich bin froh, dass er weg ist, und wenn es nach mir ginge, brauchte er erst gar nicht wiederzukommen«, sagte sie und brach nun auch in Schluchzen aus. Elisabeth stellte ihren Krug auf dem unsauberen Boden ab, stand auf und nahm Anne in den Arm. Diese spürte, dass geteiltes Leid nur halb so schwer wiegt. Anne Palmer richtete ihren tränenverschleierten Blick auf Elisabeth und sagte: »Es tut mir Leid, dass ich Euch mit meiner Geschichte behellige. Aber es tat gut, mir diese schlimmen Dinge einmal von der Seele zu reden. Dabei ist Edwyn ein so schöner und prächtiger Geselle! Aber gleichzeitig ist er ein Teufel!«
Elisabeth nickte und strich mit der Hand sanft über die blonden Haare und die Wangen der jungen Frau.
»Darf ich nun doch erfahren, was Ihr mit meinem Gatten bereden wolltet?«, fragte Anne Palmer.
»Nachdem ich Eure Geschichte angehört habe, weiß ich nicht, ob ich überhaupt noch etwas mit ihm bereden möchte«, meinte Elisabeth und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Sie überlegte, ob sie auch die Geschichte von Ludwigs Tod dieser armen, unglücklichen Frau anvertrauen sollte. Wenn sie es nicht tat, war sie umsonst hergekommen, denn auf Palmer konnte sie nicht warten. Schließlich wusste niemand, wann er zurückkehren würde. Außerdem hatte sie keine Lust mehr, ihm gegenüberzutreten, wo er scheinbar ein solch schrecklicher Mensch war. »Angeblich hat mein Bruder Selbstmord begangen. Ich habe aber den begründeten Verdacht, dass er ermordet wurde. Ich will die Schmach von ihm und meiner Familie nehmen und ihn rächen. Der wahre Mörder soll seiner gerechten Strafe zugeführt werden.«
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