Als sie erwachte, war es draußen bereits dunkel. Das Zimmer lag in tiefer Finsternis, in der kaum die Truhe und die Betten zu erkennen waren. Doch der Schatten, der sich vor ihr erhob, war trotzdem deutlich zu sehen.
Es stank nach Wein. Wie in einem Weinkeller oder einer schlecht gelüfteten Schankstube, dachte Elisabeth. Der Schatten stieß einen dumpfen Rülpser aus.
»Elisabeth, mein Eheweib, mir ist nach Feiern zumut!«, grunzte der Schatten. Sie hörte, wie er sich auszog. Stoff riss. »Verdammt! Wo ist eine Kerze, Weib?«
Elisabeth gab keine Antwort. Sie zitterte. Nun war es unausweichlich. Sie war ihm ausgeliefert. Fern der Heimat. Auf Hilfe konnte sie nicht rechnen. Wenn doch Andreas hier wäre!
Heinrich schwankte hinüber zu ihrem Bett und rüttelte sie durch. »Schläfst du schon, Weib? Dann wach auf. Gleich wirst du die Engel singen hören.«
Sie tat so, als sei sie schlaftrunken. »Lass mich in Ruhe«, stöhnte sie müde und wälzte sich auf die Seite, der Wand zu.
Mit einem Sprung war er bei ihr im Bett. Fast hätte sie vor Schreck laut aufgeschrien. Er drängte sich an sie; sie spürte seinen dicken Bauch im Rücken und etwas tiefer. Mit seinen breiten, groben Händen hob er ihr den Rock und griff ihr zwischen die Schenkel. Ihre Gedanken rasten. Sollte sie sich wehren? Sollte sie mit der Aufhebung des Ehevertrages drohen? Heinrich war keinen Vernunftgründen mehr zugänglich. Er tobte und grunzte hinter ihr wie ein brünstiges Tier. Nun konnte sie nur noch beten.
Mit einem einzigen Stoß zerriss er ihre Jungfernschaft. Schmerzpfeile durchrasten sie. Sterne tanzten ihr vor den Augen, und zwischen den Schenkeln schien sie nur noch eine einzige klaffende Wunde zu sein. Sie schrie auf, doch das hielt Heinrich nicht von seiner Raserei ab. Hoffentlich war er schnell fertig. Sie hatte von Frauen gehört, denen das eheliche Beisammensein Vergnügen machte. Wie konnte das nur sein? Vor Pein blieb ihr der Atem weg. Sie konnte nur noch krächzen. Heinrich schien ihre Laute zu missdeuten und lallte: »Macht… macht dir doch Spaß, nicht wahr?« Etwas Heißes ergoss sich in sie. Seine Bewegungen hörten auf, seine schlaff gewordene Rute rutschte aus ihr heraus, er fiel über die Bettkante und plumpste schwer zu Boden. Dort blieb er liegen und begann laut zu schnarchen.
Elisabeth krümmte sich zusammen und wimmerte. Die Schmerzen wollten nicht aufhören. Nur ein einziger Gedanke gab ihr ein wenig Kraft. Als sie daran dachte, atmete sie wieder gleichmäßiger. Nun hatte Heinrich den Ehekontrakt verletzt, und sie konnte es mit ihrer verlorenen Jungfernschaft beweisen. Er war in ihrer Hand.
Und er hatte sie nicht ausgezogen. Es war nicht zum Schlimmsten gekommen. Sie wollte nicht daran denken, was möglicherweise geschehen wäre, wenn er ihre nackte Haut berührt hätte. Überall…
Aber es machte die Vergewaltigung nicht ungeschehen. Sie schluchzte und weinte.
Noch vor Sonnenaufgang schlich sich Elisabeth aus dem Zimmer. Sie war über ihren schwer atmenden, in tiefem Schlaf befangenen Gatten hinweggestiegen, hatte benommen im Dunkeln nach ihrem Mantel getastet, sogar ihre Haube gefunden und sich notdürftig angekleidet. Sie wollte nicht länger mit diesem Scheusal von Mann zusammen in einem Zimmer sein; sie wollte sein Erwachen nicht erleben. Bei jedem Schritt loderte zwischen ihren Beinen der Schmerz auf. Sie ertastete mit der Hand verklebtes Blut. Sie ekelte sich vor Heinrich – und vor sich selbst. Wieder dachte sie an Andreas. Irgendetwas in ihr sagte, dass sie bei ihm alles loswerden, ihm alles erzählen konnte. Was würde er sagen, wenn er von dieser Untat erfuhr? Ihr kam ein bitterer Gedanke. War es überhaupt eine Untat? Hatte Heinrich nicht als ihr Gatte das von Gott selbst gewährte Recht auf den ehelichen Beischlaf? War nicht sie selbst im Unrecht, weil sie im Verbund mit ihrem Bruder diesen gotteswidrigen Ehekontrakt aufgesetzt hatte? Doch ihr Gefühl sagte etwas anderes: Wenn das, was ihr widerfahren war, Recht war, dann gab es kein wahres Recht und keine Gerechtigkeit mehr.
Sie eilte ziellos durch die Guildhall, deren schweres Portal jedoch noch verschlossen war. Sie fühlte sich eingesperrt. In den Tiefen dieses Gebäudes lauerte ihr Mann und vielleicht der oder die Mörder ihres Bruders, und die Stadt draußen erschien ihr wie ein sprungbereites Tier. Sie bereute, dass sie hergekommen war. Es war so sinnlos. Was wäre, wenn sie den Mörder tatsächlich hier fand? Wie sollte sie ihn zur Verantwortung ziehen? Sie seufzte und zupfte an ihrer Haube, von der sie den Eindruck hatte, dass sie zerknittert war.
Allmählich ließen die Schmerzen nach. Elisabeth atmete tief durch. Was waren das für Gedanken? Wo war ihre Entschlossenheit? Sie war ihrem toten Bruder jede Anstrengung schuldig, um seinen Mörder ausfindig zu machen. Wieder sehnte sie sich nach Andreas.
Eine verschlafene Wache rückte an und sperrte das große Portal mit einem gewaltigen eisernen Schlüssel auf. Erst als der Mann gähnend das Tor aufzog und ein wenig Morgenlicht hereinfiel, bemerkte er die stille Frau im Schatten. Beinahe wäre ihm vor Schreck der Schlüsselbund aus der Hand gefallen. »Was macht Ihr hier? Wer seid Ihr?«
Sie nannte ihm nur ihren Namen und war schon an ihm vorübergegangen, als er zu einer weiteren Frage ansetzen wollte.
Auf der Thames Street war es ruhig. Kaum jemand war in dieser frühen, leicht nebligen Morgenstunde zu sehen. Elisabeth eilte wieder auf die Kirche All Hallows zu, in deren Schatten sich das Kontor von Edwyn Palmer befinden sollte. Sie kam an der Taverne vorbei, in welcher sie gestern nach ihm gefragt hatte. Tür und Fenster waren mit Holzläden verhängt.
Rasch lief sie weiter und schüttelte sich. Sie bog in die Straße vor der Kirche ein und lief sie entlang. Nirgendwo gab es an einem Haus das Schild eines Tuch- oder Weinhändlers. Immer wieder warf sie einen Blick auf das gedrungene Gotteshaus inmitten des alten Friedhofes, der ihr wie ein schreckliches Omen erschien.
Allmählich belebten sich die Straßen, Fuhrwerke ratterten herbei, Männer mit Handkarren liefen umher, schwenkten Handglocken und riefen allerlei Unverständliches. Alte Frauen mit großen Säcken über der Schulter schlurften an den dunklen, massigen Häusern entlang. Rauch trieb durch die Straßen, und Nebelfetzen lösten sich unter der kräftiger werdenden Sonne auf. Das Leben kehrte in die Stadt zurück.
Elisabeth hatte die Kirche auf den an sie grenzenden Straßen schon beinahe umrundet. Vor sich sah sie wieder die Thames Street. Gerade als sie durch einen Toreingang blickte, hörte sie aus dessen Tiefe ein schrilles, quietschendes Geräusch. Sie zuckte zusammen und verkrampfte sich. Was verbarg sich dort in der Finsternis? Elisabeth blieb stehen und lauschte. Dann entspannte sie sich wieder und musste über ihre Schreckhaftigkeit lächeln. Es konnte nur ein Kontorschild sein, das im aufkommenden Wind schwankte. Sie spähte in den Tordurchgang.
Ein großes, düsteres Haus begrenzte den Hof nach hinten. Hing nicht über seiner Tür das knarrende Schild? Ein kurzer Blick konnte nicht schaden.
Elisabeth raffte ihren Rock und schritt auf Zehenspitzen über dicken, ausgefegten Mist hinweg. Ihre Schritte klapperten unheimlich in dem tiefen Durchgang. Sie war froh, als sie in dem Innenhof stand.
Das Schild nahm sofort ihren Blick gefangen. Es war ein flaches Schild ein wenig rechts von ihr, auf dem ein Tuchballen und ein Weinfass abgebildet waren. Darunter stand: »Edwyn Palmer. Trader in Best Wines & Wooles«. Sie war am Ziel.
Die Schmerzen zwischen den Beinen setzten wieder ein, und die Erinnerung an den vergangenen Abend überwältigte sie.
Gleich einem Tier war Heinrich über sie hergefallen und hatte sie wie ein lebloses Stück Fleisch missbraucht. Die Wucht der Empfindungen zwang sie in die Knie. Sie lehnte sich gegen eine schmutzige Backsteinmauer, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Da wurde plötzlich das Portal des Kontorhauses aufgerissen.
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