»Könnte einer der Verlierer meinen Bruder umgebracht haben?«, fragte Elisabeth, die jeder Bewegung Heynricis mit den Augen folgte.
Der alte Mann blieb stehen und sah sie nachdenklich an. »Ja, das wäre möglich. Aber warum hat dieser Mord dann erst vier Jahre nach der Verhansung stattgefunden?«
Andreas nickte. Das war ein gutes Argument, das ihm noch nicht eingefallen war. »Das würde bedeuten, dass wir auf dem Holzweg sind«, brummte er und kratzte sich am Kinn.
Heynrici schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Ich glaube jedoch nicht, dass der Mord – wenn es denn wirklich einer war – etwas mit Ludwigs Rolle bei der starren Haltung des Kölner Rates im Englandstreit zu tun hat. Es gibt da noch eine andere Möglichkeit.« Er verstummte und schien in sich hineinzuhören. Dann umspielte ein feines Lächeln seine Lippen. Inzwischen wurde es draußen bereits dunkel; die Schatten in dem kleinen, büchervollen Zimmer verdichteten sich. Andreas und Elisabeth schauten ihn erwartungsvoll an und rührten sich nicht.
Der alte Mann fuhr fort: »Es ist noch nicht lange her, da war Ludwig hier bei mir. Er begleitete seinen Kutscher, der ein Fass Moselwein als Spende nach Melaten brachte. Ludwig hat nie viel Aufhebens von seinen vielfältigen Spenden gemacht, doch er hat geholfen, wo er konnte. Sonst war er immer fröhlich, aber an jenem Tag wirkte er betrübt. Ich fragte ihn, warum er so schweigsam sei, doch er wollte mir den Grund dafür nicht nennen. Er war kurz vorher wohlbehalten von einer recht gefährlichen Englandreise zurückgekehrt und hatte wieder einmal gute Geschäfte gemacht, wie er mir sagte, aber Freude darüber wollte bei ihm nicht aufkommen. Er deutete lediglich an, dass er in London Dinge erfahren habe, die ihn entsetzten. Möglicherweise im Stalhof, der dortigen Vertretung der hansischen Kaufleute.«
»Habt Ihr eine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte?«, fragte Elisabeth.
»Nein, er wollte mich nicht ins Vertrauen ziehen. Es muss etwas Schreckliches gewesen sein, denn so hatte ich ihn noch nie gesehen. Vielleicht hatte er sich vorgenommen, mit mir darüber zu sprechen, es dann aber doch nicht getan. Ihr seid doch seine Schwester, Elisabeth Bonenbergerin. Ist Euch nichts an ihm aufgefallen?«
Elisabeth wurde rot. »Ich hatte ihn seit seiner Englandfahrt nicht mehr gesehen. Er und mein Gemahl standen nicht auf gutem Fuß miteinander, sodass unsere Besuche leider nur selten waren. Ich konnte bloß einmal nach der Messe in Sankt Kolumba mit ihm reden, und da machte er auf mich einen gehetzten Eindruck. Wenige Tage später war er tot.« Sie barg den Kopf in den Händen.
»Ich weiß nicht, was ihm in England widerfahren ist, aber vielleicht hat es etwas mit seinem Tod zu tun«, sagte Heynrici nachdenklich. »Ich hatte ihn zum Reden nötigen wollen. Leider ist es mir nicht gelungen. Das werde ich mir nie verzeihen. Vielleicht hätte ich ihn retten können. Manchmal verfolgt mich sein verängstigter Blick bis in den Schlaf.«
Andreas schaute aus dem Fenster der Herberge von Melaten. Es war zu spät für die Rückreise nach Köln geworden. Er und Elisabeth hatten zwei kleine Zimmer erhalten, denn das Gasthaus war völlig leer. Sonst wurden die Kammern mit mehreren Gästen belegt. Ein wenig hatte Andreas gehofft, das wäre auch an diesem Tag so gewesen. Andreas hätte gern ein Gemach mit Elisabeth geteilt, wie er sich selbst eingestehen musste. Er spürte, dass sein Gesicht rot wurde. Seine Hände zitterten. Als Geistlicher durfte er keine fleischlichen Regungen haben; er hatte seinen reinen Körper Gott geweiht. Aber warum hatte Gott dem Menschen den Geschlechtstrieb mitgegeben, wenn er etwas so Schlechtes war, wie es die Gelehrten zu beweisen suchten?
Andreas’ sündige Gedanken wurden abgelenkt, als er plötzlich einen Schatten neben der Kirche in Richtung der Siechenhäuser huschen sah. Ganz kurz nur beschien der Mond die nächtliche Gestalt. Ein weißer Bart blitzte auf.
Was machte Heynrici so spät noch dort draußen?
Wenige Augenblicke später hörte Andreas einen schrecklichen Schrei, der in ein grässliches Gurgeln überging. Es hörte sich an, als werde einem der armen Siechen eines seiner verfaulenden Glieder bei lebendigem Leibe herausgerissen. Andreas schlug das Herz bis zum Halse. Er lauschte angestrengt, aber nun war wieder alles still. Totenstill.
Heinrich Bonenberg warf ihr von der Seite her merkwürdige Blicke zu, doch er näherte sich ihr nicht. Elisabeth hatte ihm gesagt, sie sei immer noch unrein. Sie hatte keine Ahnung, welche Ausrede sie in einer Woche benutzen sollte, vor allem, weil sie ihrem Gatten dann kaum mehr aus dem Weg gehen konnte.
Sie würde enger denn je an ihn gekettet sein, denn sie wollte mit ihm nach London reisen.
Heinrich musste etliche Fässer Wein nach England bringen und von dort Tuche holen, die er mit hohen Gewinnen in Köln zu veräußern hoffte. Er hatte sich einen Platz auf dem Schiff des Kölner Handelsherrn Hermann Rinck erkauft, das in zwei Wochen von Antwerpen aus nach London in See stechen würde. Also war Eile angebracht.
Heinrich stand im Hof des Bonenberg-Hauses und überprüfte die Anzahl der Fässer auf den Wagen, die erst kurz zuvor vom Rheinhafen ausgeladen worden waren. Er nahm hauptsächlich Rheinwein mit, den er vor kurzem noch von einem Winzer geliefert bekommen hatte, der die Fässer eigentlich für den eigenen Gebrauch hatte lagern wollen, doch Bonenberg hatte ihm einen so guten Preis gemacht, dass der Mann nicht hatte ablehnen können. Es war ein großes Risiko für Heinrich, denn wenn er im Stalhof auf seinen Fässern sitzen blieb, war er ruiniert.
Gleichzeitig hatte Bonenberg dem Winzer schon die nächste Ernte vollständig abgekauft und auch dafür eine große Summe Geldes bezahlt. Kein Wunder, dass er nun nervös war und das Verladen der Fässer persönlich beaufsichtigte. Wenn auch nur eines zerschellte oder auslief, konnte das seinen Untergang bedeuten.
Er lief wie ein tollwütiger Hund zwischen Wagen umher, prüfte nochmals die Fässer und zählte sie immer wieder durch.
Elisabeth schaute ihm zu und versuchte sich ein Lächeln zu verkneifen.
»Fünf Fässer fehlen!«, schrie er plötzlich und rannte noch einmal los, um die Anzahl zu überprüfen.
Es blieb dabei.
»Frantzens Georg ist mit seinem Fuhrwerk an der Salzpforte aufgehalten worden. Der Weinakzisemeister wollte den Wein probieren und danach die Steuer festsetzen, während er uns andere durchgelassen hat«, rief einer der Kutscher vom Bock aus.
»Was fällt diesem Verrückten ein!«, erboste sich Heinrich. »Wir müssen aufbrechen, wenn wir das Schiff in Antwerpen erreichen wollen.«
Da ertönte Hufgetrappel von der Rheingasse her, und endlich bog auch der letzte Wagen durch die große Einfahrt in den Hof ein. Rasch überprüfte Heinrich die Ladung und war endlich zufrieden. Sie saßen auf. Elisabeth winkte kurz ihren Mägden zu, die sich im Hof versammelt hatten, und verließ das Bonenberg’sche Anwesen zum ersten Mal seit ihrer Eheschließung für eine wirklich lange Zeit. Sie sehnte sich nach dem Neuen – und nach der Wahrheit über den Tod ihres Bruders.
Laut rumpelten die Fuhrwerke durch die Rheingasse, vorbei an Sankt Martin mit seinen mächtigen Türmen und der gewaltigen Apsis, durch kleine Straßen voller Menschen und Karren, durch stille Gassen, in denen nur Hunde und Gänse vor den niedrigen Fachwerkhäusern umherstreiften, bis die Karawane die Minoritenstraße erreicht hatte. Elisabeth sah den Turm und den Kran von Sankt Kolumba und dachte an Andreas.
Auf der Breiten Straße kamen sie schneller voran, alle machten dem Kaufmannszug Platz. Elisabeth ließ die Blicke schweifen. Überall stachen die Kirchtürme in den Himmel, als wollten sie ihn durchlöchern. Vereinzelte Rauchfahnen stiegen aus hohen Kaminen auf und wirkten wie gespenstische weiße Schatten der Glockentürme. In der Ferne wurde die große Ehrenpforte, das westliche Stadttor, sichtbar. Schnell hatten sie es erreicht. Die Torwächter kannten Heinrich Bonenberg gut und ließen ihn rasch durch.
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