»Natürlich. Wenn es wieder ehrsam ist«, flüsterte sie mit einem Ausdruck tiefsten Bedauerns und schlug die Augen nieder. Dann ging sie langsam rückwärts aus dem Zimmer.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und auf dem Korridor stand, atmete sie auf. Sie wollte sich nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn sie diesen Einfall nicht gehabt hätte.
Wenn sie sich ihm nicht rechtzeitig hätte entziehen können.
Wenn er es bemerkt hätte.
Sie hatten Glück. Die Ratssitzung war gerade vorüber, und die Herren kamen in ihren schwarzen, bis zu den Knien reichenden Tabbarden und den steifen, ebenfalls schwarzen Hüten nach spanischer Mode aus der dem Rathaus vorgebauten Laube. Majestätisch schritten sie an den mit sagenhaften Löwenkämpfen geschmückten dicken Steinpfeilern vorbei und blinzelten in die Sonne. Einer von ihnen, ein hagerer, großer Mann, den die schwarze Kleidung beinahe zu einem Gespenst machte, lief auf Elisabeth zu, als er ihrer gewahr wurde – das heißt, er lief so schnell, wie es seine spitzen Lederschuhe zuließen. Er nahm ihre Hand und drückte sie kurz, dann sah er sie traurig an.
»Es tut mir so Leid, dass ich nicht zur Beerdigung Eures Bruders kommen konnte, aber der Rat hatte entschieden, dass wir dem Selbstmörder nicht die letzte Ehre geben dürfen, vor allem deshalb nicht, weil er mit dem Teufel im Bunde stand.«
Elisabeth entzog ihre Hand dem Mann mit dem traurigen Blick. »Er war kein Vasall des Bösen, Peter Krantz«, zischte sie. »Ihr wisst es doch besser. Ihr kanntet meinen Bruder.«
Krantz sah von ihr zu dem Geistlichen, der neben ihr stand. Ablehnung schlich sich in seinen Blick. »Ich kannte ihn, wie sich Ratsmänner untereinander eben kennen«, sagte er und fügte leise hinzu: »Und er war ein guter Kerl. Ich begreife nicht, was da geschehen ist.«
»Wer könnte es denn begreifen?«, mischte sich Andreas Bergheim ein. Elisabeth hatte ihm alles berichtet, was ihr Mann ihr gesagt hatte, ohne indes ihre List zu erwähnen.
»Was will dieser Pfaffe?«, fragte Krantz Elisabeth abschätzig, während ihn einige der Ratsherren verabschiedeten, indem sie ihn kurz umarmten.
»Andreas Bergheim ist ein guter Freund von mir und hilft mir, Licht in das Dunkel von Ludwigs Tod zu bringen«, erwiderte Elisabeth kalt.
»Verzeiht, Bonenbergerin. Vielleicht habt Ihr Recht. Doch ich muss fort, die Geschäfte rufen.« Krantz versuchte, sich davonzumachen.
»Nicht so schnell, Krantz«, sagte Elisabeth hastig und zupfte ihn am Ärmel seiner Amtsrobe. »Was wisst Ihr über die Feinde meines Bruders im Rat?«
Er vermied es, sie anzusehen. »Er hatte keine Feinde.«
»Wirklich nicht?«, warf Andreas ein. »Wir haben da etwas anderes gehört.« Inzwischen hatte sich die Laube geleert, nur noch Krantz, Elisabeth und Andreas standen in der offenen, zugigen Eingangshalle, über der sich ein hölzernes Obergeschoss befand. Die Sonne warf Balken aus Licht auf den gepflasterten Boden. Den Ratsherrn ließ sie im Dunkel; er schien wie zwischen zwei Lichtgittern gefangen.
»Ihr fragt den Falschen. Außerdem ist der Inquisitionsprozess abgeschlossen. Warum kümmert Euch die Sache noch?«
»Habt Ihr schon einmal einen Bruder oder eine Schwester durch ein Verbrechen verloren?«, gab Andreas zurück.
»War es denn ein Verbrechen? Sind in diesem Falle nicht Verbrecher und Opfer dieselbe Person?«, entgegnete Krantz, schaute den Kaplan herausfordernd an und machte einen Schritt auf ihn zu. Elisabeth stellte sich rasch zwischen die beiden.
»Begreift Ihr denn nicht das Leid einer Schwester?«, sagte sie zu Krantz und schenkte ihm einen schmerzerfüllten Blick. »Wir wollen doch nur etwas über Ludwigs Stellung im Rat und seine Beziehungen zu den anderen Ratsherren erfahren.«
»Vielleicht hättet Ihr Euch früher dafür interessieren sollen«, meinte Krantz. »Ich erinnere mich nicht, dass Ihr je für Euren Bruder so viel Aufmerksamkeit übrig hattet wie nach seinem Tode.« Elisabeth traten Tränen in die Augen. Sie schluckte.
Mit zwei Schritten umrundete Andreas Elisabeth und versetzte Krantz eine Maulschelle. Es klatschte wie ein Peitschenhieb.
Als er die schmerzende Hand zurückzog, blieb ihm das Herz vor Schrecken über seine Tat fast stehen. Er kannte sich selbst kaum noch.
Einen Augenblick lang standen alle drei wie versteinert da. Auf Krantz’ Gesicht wechselten sich Zorn, Verwunderung und Scham ab. Die Luft knisterte. Die Geräusche der Stadt, das Wagenklappern, Hufgetrappel, Rufen, Hämmern, waren wie durch ein dickes Tuch erstickt.
Krantz war der Erste, der die Worte wieder fand. »Ich entschuldige mich für meine Äußerung«, sagte er leise. »Aber ich kann Euch nicht viel über das sagen, was Ihr wissen wollt.«
»Gibt es denn jemanden, den wir fragen können?«, wollte Elisabeth wissen. Sie entspannte sich und trat neben Andreas, der sich nun die immer noch schmerzende Hand rieb.
Krantz konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er Andreas ansah. Dieser spürte, wie wieder der Zorn in ihm hochstieg, doch er riss sich zusammen.
»Wenn Ihr es wagt, könnt Ihr Ulrich Heynrici aufsuchen. Er hat damals die Position der Stadt Köln vor dem Hansetag vertreten und dabei eng mit Ludwig Leyendecker zusammengearbeitet. Wenn jemand etwas über Euren Bruder weiß, so ist er es.«
»Wo können wir ihn finden?«, fragte Andreas.
»Bei den Toten und den Sterbenden.«
Aus dem Stall des Pastorats hatte Andreas zwei Apfelschimmel ausgeborgt. Pastor Hülshout war zwar zuerst nicht einverstanden gewesen, aber als Andreas ihm erklärt hatte, wen sie besuchen wollten, hatte sich Hülshouts Miene aufgehellt.
»Ulrich Heynrici, den Heiligen?«, hatte er erfreut gesagt, während er sich in der Sakristei das Messgewand überzog. »Das ist natürlich etwas anderes. Überbringe ihm meine besten Wünsche. Und nimm die Pferde, mein Junge. Rede mit diesem heiligsamen Mann, und versuche, dir an ihm ein Vorbild zu nehmen.« Hülshout entband ihn sogar von der Messverpflichtung für diesen Tag, falls Andreas es auf dem Rückweg nicht mehr schaffte, die Stadttore vor dem Schließen zu erreichen.
Elisabeth hatte unbedingt mitkommen wollen. »Es ist gut, wenn ich eine Weile aus dem Haus bin«, hatte sie gesagt. »Je länger die Reise dauert, desto besser. Und in Begleitung eines Geistlichen darf ich wohl fort.«
Nun näherten sie sich zu Pferd der Ehrenpforte. Es war ein kalter Frühlingstag. Der Wind hatte auf Ost gedreht und trieb weiße Schäfchenwolken über den stahlblauen Himmel. Am Tor wollten sie absteigen, doch die Torwächter winkten sie durch. Ein geistliches Gewand bewirkte so manches.
Unmittelbar hinter dem Tor begannen die Felder und Wiesen. Die Weite der Äcker, der fernen Waldstücke, des endlosen Himmels beängstigte Andreas. Auf Reisen über Land, unter dem freien Himmel, schien es kaum mehr Begrenzungen zu geben. In der Stadt wusste man, wohin man sich zu wenden hatte; man kannte die Wege, die Gefahren und die Annehmlichkeiten. Doch hier draußen lag eine andere Welt.
In der Ferne sah er eine aufgeregte Schafherde und einen großen schwarzen Hund, der die Tiere zusammentrieb.
Er schaute hinüber zu Elisabeth, die schweigend neben ihm ritt und tief in Gedanken versunken schien. Sie hatte die dünnen Lippen zusammengekniffen, sodass sie nur mehr einen Strich bildeten. Andreas kannte Elisabeth seit Jahren, doch nie war er so häufig und nah mit ihr zusammen gewesen wie in den letzten Tagen. Etwas Seltsames umwebte sie. Hülshouts dunkle Andeutungen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Sie war eine mutige und entschlossene Frau, doch kannte er sie wirklich?
Andreas fragte sich, was sie am Ende ihrer Reise erwarten würde. Sie waren auf dem Weg nach Melaten, dem Leprosenhaus vor den Toren der Stadt. Ratsherr Krantz hatte ihnen gesagt, Ulrich Heynrici habe sich nach seinem Rückzug aus der Politik und dem Kaufmannsdasein im Spital von Melaten eingekauft, um den Kranken zu helfen und den Küsterdienst in der dortigen Kapelle zu versehen. Er habe der Welt den Rücken gekehrt und im stetigen Blick auf Gott ein neues Leben begonnen.
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