Noch immer sprach niemand mit ihr, auch selbst, als sich der Staub, den sie aufgewirbelt hatten, allmählich legte, bewegte sich keiner. Aus dem Hauptportal der Großen Halle trat eine Gestalt mit wallendem weißen Haar – hoch aufgerichtet, lächelnd. Es war der Arzt, Suidur der Weise.
»Willkommen, Schwester Fidelma – oder sollte ich dich die Edle Fidelma nennen? Ich bin mir nie sicher, wie man eine Prinzessin anredet, die Nonne geworden ist.« Er machte eine kleine spöttische Verbeugung. »Jedenfalls bist du uns hochwillkommen. Steig ab und tritt ein. Ein erfrischender Trunk steht bereit, der Staub der Straße wird dir die Kehle ausgedörrt haben.«
»Fragt sich, ob ich wirklich willkommen bin«, entgegnete Fidelma und glitt von ihrem Pferd. »Der Empfang, der mir bereitet wurde, war ziemlich absonderlich.« Ihr Blick auf die Geiselnehmer sagte alles.
»Das sind Wulfoalds Krieger« erklärte Suidur. »Ich befürchte, manchmal gehen sie ein bisschen übereifrig zu Werke, und dafür entschuldige ich mich.«
»Ihren Übereifer kenne ich zur Genüge, zum ersten Mal habe ich ihn in Genua erlebt, und dann wieder, als ich in dieses Tal einritt.«
Suidur wechselte mit den Kriegern ein paar Worte in der Landessprache. Sie machten die Ehrenbezeigung und zogen mit den Pferden ab. Er schaute sie vergnügt an und winkte ihr, ihm zu folgen. »Dass du Dinge durchschaust, edle Dame, ist mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen.«
In der Großen Halle saß Seigneur Radoald mit einem älteren, in grobem Wollzeug gekleideten Mann. Er hatte langes graues Haar und hielt sich gebeugt. Beide standen auf, als sie, von Suidur begleitet, hereinkam. In der Art, wie sich der ältere der beiden erhob, erkannte Fidelma sofort, dass die gebückte Haltung nur vorgetäuscht war. Sie schaute ihm ins Gesicht, und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Wie du siehst, Fidelma, haben wir dich erwartet«, begrüßte sie der junge Seigneur von Trebbia.
»Mich erwartet? Eher glaube ich, deine Spione haben erkundet, dass ich die Abtei verließ und den Weg hierher einschlug. Haben deine Krieger mir deshalb aufgelauert?«
Der Mann in der Kutte aus schlichtem selbstgewebtem Tuch beantwortete ihre Frage. »Wir befinden uns in einem Konflikt mit Gegnern, die bislang unfassbar wie Schatten sind. Ein Risiko einzugehen, können wir uns nicht erlauben.«
Radoald wollte den Mann vorstellen, der eben gesprochen hatte: »Das ist …«
»Aistulf«, sagte Fidelma lachend. »Du brauchst mir nicht den gebeugten, älteren Eremiten vorzuspielen. Du bist fürwahr ein sonderbarer Eremit, Aistulf. Spielst auf der Muse, sprichst Latein und befehligst Krieger. Warum verbirgst du dich in den Bergen und lässt deinen Sohn an deiner Stelle als Seigneur von Trebbia regieren?«
Er war es, der das erstaunte Schweigen nach ihrer Frage brach. »Wir haben dich unterschätzt, Fidelma von Hibernia«, sagte er leise. »Wie bist du darauf gekommen? Du bist doch fremd hier. Abgesehen von Servillius und Gisa habe ich mich keinem aus der Nähe gezeigt, um nicht als der ehemalige Seigneur von Trebbia erkannt zu werden. Die Mitglieder meines Haushalts sind auf Verschwiegenheit verpflichtet. Wie bin ich verraten worden?«
»Du bist nicht verraten worden, Seigneur Billo. Jedenfalls nicht von mir. Ich bin durch eine logische Schlussfolgerung darauf gekommen. Als Suidur uns ins Trebbia-Tal geleitete, habe ich euch dort oben zufällig belauscht. Ihr dachtet, ich schliefe. Als du in dem Gespräch sagtest, du würdest nicht gleich in die Berge zurückgehen, sondern erst noch mit deinem Sohn sprechen, war mir die Verbindung klar. Es ist allgemein bekannt, dass Seigneur Billo und sein Sohn Radoald für Grimoald in den Kampf zogen. Radoald kehrte vom Kriegszug heim und wurde zum Seigneur von Trebbia ausgerufen. Zur gleichen Zeit ließ sich ein Einsiedler, nämlich der Eremit Aistulf, in den Bergen nieder. Da war es doch leicht, gewisse Schlüsse zu ziehen.«
»Nach den Feldzügen gegen Perctarit wollte ich in Frieden leben, wusste aber, dass mich vielerlei daran hindern würde. Daher habe ich meine Herrschaft meinem Sohn Radoald übertragen, habe meinen Namen geändert und mich in den Frieden dieses Tals zurückgezogen. Meine Tage wollte ich in Beschaulichkeit enden, nie wieder Männer, Frauen oder Kinder blutüberströmt sehen, nie wieder die Schreie der Verwundeten und Sterbenden hören. Ich wollte so und nicht anders leben. Mein Sohn ist jetzt Seigneur von Trebbia. Aber unseligerweise ist mir der Tod in dieses Tal gefolgt, und nun muss ich helfen, ihn zu vertreiben. Mein Sohn wird auch weiterhin Seigneur von Trebbia sein. Sobald wir die Geschichte hier zu einem glücklichen Ende gebracht haben, ziehe ich mich wieder ins Einsiedlerleben zurück. Ich bleibe Aistulf der Eremit.«
Radoald winkte einem Bediensteten, der ihnen eine bauchige Flasche und Becher brachte. »Setz dich«, lud er Fidelma ein, »und gönn dir eine Erfrischung.«
Sie hatte sich längst die Lebensweisheit zu eigen gemacht, wenn dir keine andere Wahl bleibt, füge dich in das Unvermeidliche. So folgte sie der Aufforderung und nahm den Becher, bat aber um kaltes Wasser aus einer Bergquelle, denn für sie gab es nichts Erfrischenderes als das.
»Warum habt ihr mich erwartet?«, wollte sie von Aistulf wissen.
»Wir haben dich erwartet, weil mein lieber Freund Servillius gesagt hat, er würde dich zu uns schicken. Hat er dir nicht erklärt, dass er meinte, du könntest hier von Nutzen sein?«
»Abt Servillius wurde gestern Nacht ermordet«, gab sie ihm unumwunden zu verstehen.
Ihre Mitteilung wurde mit bleiernem Schweigen aufgenommen, tiefes Luftholen deutete an, wie jeder mit sich um Fassung rang. Fidelma bemerkte Schwester Gisa in der Tür und fühlte sich für einen Augenblick in ihrer Vermutung bestätigt. Sie hatte zu Recht erwartet, das Mädchen in Radoalds Festung vorzufinden. Die junge Nonne lief zu Suidur, der sie in die Arme nahm und tröstete.
»Ich hatte davon Kenntnis bekommen, dass du Freifrau Gunora tot aufgefunden hast«, nahm Aistulf das Gespräch wieder auf. »Als ich die Totenklage für sie spielte, ahnte ich nicht, dass sie auch meinem armen Freund galt.«
»Da hatte Bruder Bladulf ihren Leichnam noch nicht vom Berge zu Tal geschafft. Du hast die Totenklage nicht nur für Servillius, sondern auch für Hawisa und Bruder Eolann erklingen lassen.«
Aistulf erschrak. »So oft hat der Tod zugeschlagen?«
»Wie Hawisa starb, haben wir von Wulfoald erfahren, aber …«, begann Radoald.
Doch der Eremit fiel ihm ins Wort: »Mir scheint vernünftiger, die Edle Fidelma schildert uns erst einmal, was sich inzwischen alles zugetragen hat.«
Sie erzählte ihnen, was sie wusste.
»Lass mich einiges wiederholen, um nichts durcheinanderzubringen«, sagte Aistulf, als sie geendet hatte. »Wulfoald hat ohne dich die Abtei verlassen, nachdem ihr erfahren hattet, Servillius wäre heimgekehrt, hätte aber strikte Order erlassen, ihn nicht zu stören. Später seid ihr dann, der Ehrwürdige Ionas und du, zu Servillius gegangen, habt ihn aber tot vorgefunden.«
»Im Wesentlichen stimmt das so.«
»Du hast Servillius nicht mehr gesehen, und er hat dir nie erklärt, warum du hierherkommen solltest?«
»Was hätte er mir denn erklären sollen?«, war ihre Gegenfrage.
»Er sollte dir nahelegen, mit Wulfoald hierherzukommen, wie wir mit ihm verabredet hatten. Wulfoald hat uns nur berichtet, dass er Servillius nicht zu Gesicht bekam und demzufolge keinerlei Botschaft von ihm erhielt.«
Fidelma biss sich auf die Lippen. »Er hatte ja keine Gelegenheit, ihn zu sprechen. Ich war versessen darauf, der falschen Fährte zu folgen, die Bruder Eolann gelegt hatte. Kaum war ich wieder in der Abtei, habe ich den Ehrwürdigen Ionas aufgesucht und ihm die Vorgänge aus meiner Sicht dargelegt. Wie eine Närrin habe ich mich irreleiten lassen, und so wurde viel Zeit vertan. Als der Ehrwürdige Ionas und ich zum Abt gingen, stellten wir fest, dass er wahrscheinlich gleich nach seiner Rückkehr in die Abtei ermordet worden war.«
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