»Ich glaubte eine ungefähre Vorstellung zu haben, wo die Höhlen liegen, in denen sich Aistulf, der Eremit, aufhält.«
»Und hast sie nicht entdeckt?«
»Weder sie noch den Eremiten. Auf dem Rückweg traf ich unterwegs Magister Ado. Und hier ein Toter nach dem anderen. Der Ehrwürdige Ionas meint, du würdest die Morde aufklären können. Dabei sprichst du doch nicht einmal die Sprache der Langobarden. Bei aller Hochachtung – und ich weiß, dass der Ehrwürdige Ionas und mein eigener Meister Magister Ado große Stücke auf dich halten –, ich würde dir raten, noch morgen deine Rückreise anzutreten und nach Genua aufzubrechen. Hier droht überall Gefahr.«
Fidelma sah den sich ereifernden jungen Mann nachdenklich an.
»Was hat es mit dieser Gefahr auf sich, Bruder Faro? Weshalb bist du so besorgt, ich könnte länger bleiben?«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
»Ich bin fremd hier, richtig. Aber im Grunde genommen bist du es nicht weniger. Du hast mir selbst erzählt, du wärest erst vor zwei Jahren auf der Suche nach einem friedlichen Zufluchtsort hier gelandet. Weshalb drängst du mich zur Abreise, bleibst aber selbst hier?«
Er schien peinlich berührt. »Ich glaube, du weißt, was mich hier hält.«
»Dann wirst du morgen deine Suche nach Schwester Gisa fortsetzen?«
Er nickte rasch. »Sowie es hell wird. Solltest du sie aber schon vorher zu Gesicht bekommen, bitte ich euch beide inständig, das Tal zu verlassen, denn ich fürchte, ein Sturm zieht herauf.«
»Sag mir ein paar Worte über Gisa. Kennt sie sich in dem Gebiet hier gut aus? Oder könnte sie in dem Tal leicht die Orientierung verlieren?«
»Sie ist hier groß geworden und für viele ein vertrautes Gesicht.«
»Hat sie dich mit ihren Familienangehörigen bekannt gemacht?«
»Über ihre Familie hat sie nie gesprochen. Manche sagen, sie sei mit Aistulf, dem Eremiten, verwandt. Ihr Vater, hat sie mal gesagt, wäre Arzt gewesen, und sie selbst kennt sich bestens mit Kräutern und Heilpflanzen aus. Das ist aber auch alles, was ich weiß.«
»Dein Rat war nicht umsonst, Bruder Faro, ich werde ihn überdenken. Wenn du dich morgen früh erneut auf die Suche begibst, schließt sich dir gewiss noch der eine oder andere an.«
Er sah sie grübelnd an. »Du bleibst?«
»Ich bleibe. Ich täte meinem alten Mentor Bruder Ruadán und auch den anderen Unrecht, wenn ich dem Tal einfach den Rücken kehren würde, ohne die Vorkommnisse aufzuklären.«
»Hoffentlich wirst du deine Entscheidung nicht bereuen. Wenn du mich fragst, ist der Sturm nicht mehr aufzuhalten.«
Gegen Mitternacht zog eine Fackeln tragende Prozession von den Toren der Abtei hinauf zur Totenstätte. Sie war nicht mit der von vor einigen Tagen zu vergleichen, die Bruder Ruadán zu Grabe getragen hatte. Den Brüdern waren die Furcht und die Anspannung, die sich ihrer bemächtigt hatten, anzusehen. Nur wenige waren dem Ruf des Ehrwürdigen Ionas gefolgt, und das waren vor allem die Sargträger. Der Einzige, der nicht zur Gemeinschaft der Brüder gehörte, war der junge Bursche Odo. Hawisa hatte man bereits, in Laken gehüllt, neben das geöffnete Grab von Wamba gelegt, das andere zuvor ausgehoben hatten. Angst und Schrecken schwebte über dem Trauerzug, gepaart mit Nervosität; bei dem geringsten harmlosen Geräusch fuhr ein jeder zusammen.
Unmittelbar hinter den Bahren mit dem Abt und dem scriptor schritten der Ehrwürdige Ionas und Magister Ado, gefolgt von dem Verwalter und dem Apotheker, hinter ihnen Fidelma und Bruder Faro. Zuerst senkte man Hawisas Leichnam mit einem kurzen Segensspruch in das Grab ihres Sohnes. Dann begrub man Bruder Eolann, und Fidelma wurde gebeten, vorzutreten und ein paar Worte über ihren Landsmann zu sagen. Sie hatte ihre Schwierigkeiten damit, wusste sie doch, dass er dabei mitgewirkt hatte, sie auf eine falsche Fährte zu locken. Sie brachte nur wenige Worte zustande.
»Bruder Eolann kam aus meines Vaters Königreich Muman«, begann sie. Sie benutzte die Formulierung, obwohl ihr Vater schon gestorben war, als sie noch Kind war. Es wäre zu umständlich gewesen, jetzt zu erklären, dass es in ihrem Land keine erbliche Folge auf dem Königsthron gab, die Könige aber dennoch aus dem Verwandtenkreis gewählt wurden. So war ihr Vetter Cathal der gegenwärtige König von Muman und ihr Bruder Colgú der Thronanwärter. »Man hatte ihn in die Abtei auf Inis Faithleann, der Insel des heiligen Faithleann, aufgenommen, der einer der großen Verkünder des Neuen Glaubens in unserem Land war.
Der Ort ähnelt durchaus dem hiesigen, wenngleich er auf einer Insel mitten in einem See liegt, umgeben von Bergen, die in üppiges Grün getaucht sind – Bäume und immergrüne Pflanzen wie Stechpalmen, Ebereschen und Arbutus. Es mag merkwürdig erscheinen, dass er, auf eine Mission nach St. Gallen geschickt, letztlich …« Sie stockte, denn ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie ablenkte und den sie nicht vergessen durfte, »… letztlich aber in Mailand landete, von wo es ihn hierher ins Trebbia-Tal und zu eurer Abtei zog, die Colm Bán vor vielen Jahren gegründet hatte. Es heißt, er war ein guter scriptor, aber er machte einen Fehler. Er hatte einen Eid geleistet, bei uns zu Hause spricht man von einem géis, und er hätte wissen müssen, dass man den nicht ungestraft brechen kann. Hält man sich nicht daran, schlägt das Schicksal unerbittlich zurück. Er hat es mit dem Leben büßen müssen …«
Stammelnd kam sie zum Ende, denn ihr fiel nichts Positives mehr ein, was sie hätte sagen können. Der Ehrwürdige Ionas trat vor und ergänzte ihre Rede. »Und dennoch gibt es einen, der alles weiß, der den Sünder sieht, und selbst, wenn wir armen Sterblichen ihn hier auf Erden nicht stellen können, so wird man ihn in seinem anderen Leben finden und zur Rechenschaft ziehen.«
Dann wurden die sterblichen Reste von Abt Servillius in die Erde gelassen, und der Ehrwürdige Ionas übernahm die Würdigung. In Fidelmas Heimat wäre das die écnaire gewesen, die Fürsprache für die Seele, die Bitte um Ruhe für sie. Die endete mit einem Segensspruch.
»Abt Servillius entstammte einer römischen Patrizierfamilie in Placentia. Seine Vorfahren dienten unserem Land in langer und ehrenvoller Tradition. Er stand dieser Abtei nicht nur als Abt vor, sondern auch als Bischof. Ich selbst war hier, als Servillius das erste Mal durch die Tore unserer Abtei schritt. Das war vor vierzig Jahren, als es noch Brüder gab, die unseren gesegneten Gründer Columbanus gekannt hatten. Ich habe ihnen viel zu verdanken, waren sie es doch, die mich inspirierten, eine Biografie über den großen Mann zu schreiben.
Auch Servillius war in vielerlei Hinsicht ein gesegneter Mann. Als er Abt wurde, machte er sich den Wunsch unseres Gründers zu eigen, unsere Abtei nicht nur als Stätte des Glaubens zu pflegen, sondern auch zu einem Zentrum des Lernens, der Forschung und des Fortschritts zu entwickeln. Er war bemüht, die Abtei nicht in die Hände der Anhänger des Arius fallen zu lassen. Dank meines Amtes konnte ich in Rom vorstellig werden und bewirken, dass man unsere treue Ergebenheit gegenüber dem Heiligen Vater anerkannte und uns die Mitra für unseren Abt als Bischof zugestand. Zuvor hatte ich die gleiche Ehrung für Abt Bobolen erwirken können. Gemeinsam wehrten wir die bösen Absichten der Anhänger des Arianischen Glaubens ab …«
Unversehens hielt er inne und schaute zu Magister Ado. Fidelma entging sein Blick nicht, sie fand ohnehin, dass der gute Mann in seinen Betrachtungen, die doch eigentlich eine Würdigung von Abt Servillius hätten sein sollen, ein wenig zu selbstgefällig geworden war.
»In dem Ringen um den wahren Glauben fanden wir Unterstützung durch Magister Ado, der später zu uns stieß und einer der angesehensten Gelehrten unserer Abtei wurde. Ich – wir werden nicht zulassen, dass unser Abt umsonst sein Leben hingab; wir werden weiterhin alles daransetzen, dass unsere Abtei zu einem Zentrum wird, das man in der gesamten Christenheit wegen seiner Frömmigkeit und Gelehrsamkeit rühmt.«
Читать дальше