Als der Leichnam des Abts ins Grab gesenkt wurde, hörten es alle – das Echo widerhallte im ganzen Tal – durchdringende, helle Töne einer Muse, den wehklagenden Aufschrei einer gequälten Seele.
Bestürzung griff um sich. Etliche Brüder hasteten zurück zur Abtei. Trotz der unruhigen Schatten des Laternenlichts konnte Fidelma die blassen, gespenstischen Gesichter von Bruder Hnikar und Bruder Wulfila erkennen. Selbst Bruder Faro starrte erschrocken auf die dunklen Umrisse der Bergeshöhen. Der Einzige, der mit einem vagen Lächeln auf den Lippen dastand, war Odo.
Magister Ado machte den Brüdern, die nur zögernd am Grab ausharrten, sanfte Vorhaltungen. »Habt ihr noch nie zuvor die Muse gehört? Habt ihr noch nie, wenn wir eine Beerdigung hatten, die Sackpfeife spielen gehört?«
Fidelma wandte sich Bruder Faro zu, der mit leicht geneigtem Kopf neben ihr stand und dem traurigen Klang lauschte. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck.
»Allem Anschein nach hat sich Bruder Wulfila geirrt, wenn er glaubte, Abt Servillius und Schwester Gisa hätten sich auf den Weg zum alten Einsiedler gemacht, weil er krank war«, stellte sie in aller Ruhe fest. Dann aber galt ihre Aufmerksamkeit Odo, der sich in ihrer Nähe hielt. »Ich verstehe herzlich wenig von eurem Sackpfeifenspiel. Wer, glaubst du, spielt das Klagelied?«
Ohne auch nur überlegen zu müssen, erwiderte der junge Mann: »Es ist die Trauerweise des Einsiedlers. Niemand anders als Aistulf kann die Muse so spielen.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben schob Fidelma, so lautlos es nur ging, einige schwere Gegenstände vor ihre Kammertür. Dann legte sie sich zu Bett und verfiel in einen unruhigen, von Träumen beschwerten Schlaf. Mitten in der Nacht erwachte sie und setzte sich im Dunkeln auf. Die Stirn war schweißnass, der Nacken kalt. »Natürlich«, murmelte sie, als sich ihre Gedanken ordneten. »Natürlich! Wie konnte ich nur so dumm sein? Aber auch so was von dumm!« Irgendwie gelang es ihr, erneut einzuschlummern, doch am Morgen fühlte sie sich wie zerschlagen.
Sie stand auf, wusch sich und überwand ihre Ermattung. Wie gewohnt ging sie, das erste Mahl des Tages mit den Brüdern im refectorium einzunehmen, doch sich auf das Essen zu konzentrieren, wollte ihr nicht recht gelingen. Der Ehrwürdige Ionas sprach die Gebete, Magister Ado saß gedankenverloren neben ihm und stocherte lustlos in seinem Essen. Fidelma schaute sich um, Bruder Faro war nirgends zu sehen. Als sie aus dem Saal ging, fragte sie Bruder Wulfila, wo er sei.
»Er hat die Abtei schon wieder verlassen, er will weiter nach Schwester Gisa suchen«, sagte ihr der Verwalter mürrisch, er schien Faros Abwesenheit zu missbilligen.
Die Glocke ertönte, und jeder begab sich an die ihm zugeteilte Arbeit. Fidelma eilte dem Ehrwürdigen Ionas hinterher.
»Ich muss dringend mit dir sprechen«, begann sie ohne jede Vorrede. »Es handelt sich um eine Sache, die, im Augenblick jedenfalls, strikt unter uns bleiben muss.«
»Bei uns herrscht der Brauch, keine Geheimnisse voreinander zu haben«, tadelte sie der Geistliche.
»Gewisse Mitglieder der Bruderschaft haben diesen Brauch bereits gebrochen. Geheimhaltung ist mehr als angeraten, denn die Abtei schwebt in unmittelbarer Gefahr.«
Er sah sie tiefbesorgt an. »Nach den Todesfällen, die sich hier ereignet haben, fürchte ich das auch. Gestern Abend habe ich den Vorschlag unterbreitet und unterstützt, dass du die Ermittlungen aufnimmst. Darf ich annehmen, du bist bereits zu einem Ergebnis gekommen?«
»Noch nicht ganz«, gab sie zu, »doch ehe der heutige Tag zu Ende geht, werde ich die meisten Antworten, wenn nicht sogar alle, beisammenhaben.«
»Worin besteht das Geheimnis, das du mit mir teilen willst?«
Sie standen auf den Stufen zur Haupthalle, der Innenhof lag vor ihnen. Wachsam ließ Fidelma ihre Blicke umherwandern. »Gibt es einen Weg, auf dem wir in die Nekropole gelangen können, ohne gesehen zu werden?«
Der Ehrwürdige Ionas runzelte die Stirn. »Was sollen wir dort suchen oder finden?«
»Ich bin mir gewiss, es dir dort zeigen zu können. Doch wir dürfen von niemandem beobachtet werden.«
»Etwas Genaueres kannst du mir nicht sagen?«
»Nur so viel: Kurz vor seinem Tod hat Bruder Ruadán einen wundersamen Satz gesagt. Ich nahm an, er redet schon irre. Erst jetzt habe ich begriffen, was er meinte. Seine Worte waren: ›Man mag nicht glauben, wie viel Böses ein Mausoleum bergen kann.‹ Ich habe lange gebraucht, bis ich es verstand, weil ich einer falschen Fährte aufgesessen bin.«
Der betagte Mönch bedeutete ihr, mit ihm zu gehen. Sie schritten durch die Haupthalle und durch einen Gang, der neben der Küche verlief. Auch den Kräutergarten mussten sie nicht betreten. Sie gelangten in eine Art Lagerraum, den man längst nicht mehr nutzte. Der Ehrwürdige Ionas machte sich daran, in einer Ecke einige Kisten beiseitezuräumen, und schließlich kam der eiserne Griff einer Falltür zutage.
Der Klosterherr verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln. »Als ich in jungen Jahren in die Abtei kam, wurde mir dieser Weg nach draußen gezeigt, den jüngere Mönche nutzten, wenn sie den unerbittlichen Blicken des Torhüters entkommen wollten. Der war viel strenger als Bruder Bladulf, und die Regeln waren damals außerordentlich strikt. Mitunter musste man einfach mal raus in die Berge und in der Stille bei lauem Wind und Sonnenschein umherwandern.«
Er zog die Falltür auf und stieg einige Steinstufen hinab in einen kurzen Durchlass, der gerade einmal drei Schritte lang war. Ranken von Kletterpflanzen, die vor der Öffnung draußen hingen, gaben dem Dämmerlicht einen grünlichen Schimmer. Fidelma folgte ihm.
Plötzlich standen sie außerhalb der Abtei in einer Waldung. Zielsicher ging der Ehrwürdige Ionas hügelan durch die Bäume und dann über ein ebenes Gelände, bis sie zu Fidelmas Erstaunen am oberen Ende des Gottesackers anlangten. Sie befanden sich unmittelbar hinter den sonderbar aussehenden Mausoleumsbauten.
»Und nun?«, fragte er.
»Ich vermute, wir finden das, was ich suche, im dritten Mausoleum.«
»In Abt Bobolens Mausoleum? Du willst doch nicht etwa, dass wir es öffnen? Das wäre ein Sakrileg. Erst vor kurzem ist es fertiggestellt und versiegelt worden.«
»Die geheiligte Stätte ist bereits entweiht worden, wenn mich nicht alles täuscht, und um Gewissheit zu erlangen, müssen wir prüfen, was drin ist.«
Dem Ehrwürdigen Ionas war sehr unwohl zumute, während sie sich mit größter Vorsicht dem kleinen Marmorbau näherten. Niemand schien in der Nekropole zu sein, auch nicht auf den umliegenden Hängen. Sie waren unbeobachtet. Fidelma blieb vor dem Portal des Grabmals stehen. Die Torflügel waren ungemein breit, fügten sich glatt in das solide gemauerte Bauwerk ein und waren sogar aus Eisen. Der Klosterherr betrachtete die Schließvorrichtung und verzog abschätzig den Mund.
»Sehr merkwürdig. Haltbar sieht das nicht aus, wirkt mehr wie ein Provisorium. So ein Schloss müsste bei einem Portal wie diesem doch viel kompakter sein.«
»Umso wichtiger ist es, einen Blick hineinzuwerfen«, versicherte ihm Fidelma. »Wir müssen da hinein und zwar sofort.«
»Aber warum, in aller Welt?«
»In diesem Mausoleum liegt die Erklärung für alle bisherigen Todesfälle und für die, die noch folgen werden. Ich bitte dich, mir zu vertrauen.«
Verblüfft starrte er sie an, spürte aber, wie überzeugt sie von ihrer Sache war. Er zögerte noch einen Moment und sagte dann, er sei einverstanden. »Also gut. Zum Glück lässt sich so ein lachhaftes Schloss leicht wieder zusammensetzen.« Er bückte sich, nahm einen Stein auf und schlug damit gegen das eiserne Türschloss. Drei kräftige Schläge genügten, und es fiel zu Boden. Gemeinsam zogen sie einen der schweren Torflügel auf. Was immer der Ehrwürdige Ionas drinnen erwartet haben mochte, einen mit Lederbeuteln vollgestapelten Wagen jedenfalls nicht. Der nahm fast den ganzen Raum ein, der Sarkophag fehlte.
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