»Er ist ein tüchtiger scriptor .«
»Weißt du mehr über ihn?«
Die Frage erstaunte den Alten. »Ich dächte, er kommt aus eben dem Teil der Welt, aus dem auch du kommst.«
»Ja, das schon«, beeilte sich Fidelma zu bestätigen. »Ich meine, seit er hier in der Abtei ist.«
»Ah so, er ist erst seit zwei oder drei Jahren hier. Soviel ich weiß, war er zuerst im Kloster St. Gallen, das auch von einem Wandermönch aus Hibernia gegründet wurde; Gallus nennt ihr ihn wohl. Dann hat er die gewaltigen Berge überstiegen und einige Zeit in Mailand verbracht. Damals herrschte dort Perctarit, der später gestürzt und ins Exil getrieben wurde. Bruder Eolann hat sich dann hierher begeben, weil er Frieden und Einsamkeit suchte. Wir erkannten bald sein Talent als Schreiber, und so ergab es sich, dass er zum scriptor der Abtei aufstieg.«
»Er war sehr betroffen, weil einige der ihm anvertrauten Handschriften mutwillig beschädigt worden waren. Etliche Seiten fehlten, waren einfach herausgeschnitten worden.«
»Das höre ich zum ersten Mal. Mir hat niemand etwas davon gesagt, und dabei benutze ich die Bibliothek täglich.«
»Ich verstehe.« Sie machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Es ist wahrlich ein Verbrechen, Bücher zu beschädigen oder zu vernichten«, fuhr er fort.
»Es betraf Werke des Livius und Plinius. Bruder Eolann und ich haben herausgefunden, was auf den im Livius fehlenden Seiten stand. Das war ein Bericht über den römischen Prokonsul Caepio, dessen Legionen von den Galliern vernichtend geschlagen wurden.«
Das Interesse des Ehrwürdigen Ionas war geweckt.
»Caepio? Ja, richtig, in den Tagen des alten Imperiums war er Prokonsul und Statthalter der ganzen Gegend hier. Er war der Urgroßvater von Marcus Brutus, einem der Mörder des Feldherrn Julius Caesar.«
»Der Name Julius Caesar sagt mir etwas. Aber die Geschichte muss sich in weit zurückliegenden Zeiten zugetragen haben. Ich hatte den Eindruck, dass Caepio unmittelbarer mit der Provinz hier verbunden war … hängt sein Name mit irgendeiner Hinterlassenschaft zusammen?«
»Caepio?« Der alte Gelehrte schüttelte den Kopf. »Nein, der hat lange vor Julius Caesar gelebt – viele, viele Jahre sogar vor der Geburt Christi. Caepio und sein Erbe wurden im ganzen römischen Reich geschmäht. Die Ansicht besteht fort, er habe keine Würdigung seines Lebens verdient, und das aus gutem Grund. Seine Überheblichkeit war daran schuld, dass zwei römische Heere vernichtet wurden; Zehntausende Soldaten kamen um, doch er rettete seine Haut. Ihm wurde der Prozess vor dem römischen Senat gemacht, er wurde für schuldig befunden, seine Legionen leichtfertig aufs Spiel gesetzt und große Mengen Geldes unterschlagen zu haben. Da er ein Patrizier war, wurde ihm das Bürgerrecht aberkannt, und er musste außer Landes gehen. Niemand durfte ihm gestatten, sich an einem Feuer zu wärmen, oder ihm Wasser reichen, und das im Umkreis des Senatsgebäudes von achthundert römischen Meilen. Ihm wurde eine Strafe von fünfzehntausend Goldtalenten auferlegt. Von der Urteilsverkündung an war ihm nicht erlaubt, mit Freunden oder Familienangehörigen zu sprechen. Die Geschichte weiß noch zu berichten, dass es ihm gelang, eine griechische Stadt im Osten zu erreichen, und dass er dort verstarb.«
Fidelma schwieg. Was sie soeben gehört hatte, machte die wenigen Sätze verständlich, die sie in der Handschrift in der Bibliothek von Vars gelesen hatte.
»Bloß warum sind Seiten, die von Caepio handeln, aus Büchern der Abteibibliothek herausgetrennt worden?«, überlegte der Ehrwürdige Ionas laut.
»Mir ist da eine Legende zu Ohren gekommen, in der es um das Gold von Tolosa geht.«
Er schaute auf die Münze und nickte versonnen. »Der alte Traum vom Aurum Tolosanum .«
»Du kennst die Sage?«, fragte Fidelma rasch.
»Die Leute in den Tälern reden oft von dem Schatz. Mehr oder weniger ist das Katzengold oder Narrengold, kein echtes Gold. Ein Märchen also, den Goldschatz gibt es nicht.«
»Bitte, erzähl mir trotzdem davon.«
»Vor der Schlacht, in der die Streitmacht der Römer vernichtet wurde, hatte Caepio mit seinen Legionen die Stadt Tolosa überfallen und geplündert und eine riesige Menge Gold und Silber fortgeschleppt. Es heißt weiter, die Tolosaner hätten ihr Gold in einem großen, dunklen See verborgen gehalten, trotzdem sei es Caepio gelungen, seiner habhaft zu werden …«
»Was aus seinem nassen Grab geholt wurde, muss dorthin zurück«, murmelte Fidelma.
»Was sagst du da?«, fragte der alte Gelehrte aufhorchend.
»Verzeih, ich habe nur eben an einen Spruch gedacht, den ich von jemand gehört habe. Bitte, erzähl weiter.«
»Also die Angaben darüber schwanken, doch meist liest man, die Legionäre hätten sechsundvierzig Wagenladungen mit dem Gold und Silber gefüllt. Caepio hat sie dann in seine Villa in Placentia schaffen lassen. Als ihn später der Senat befragte, wo das Gold geblieben sei, hat er behauptet, die Wagen hätten nie Placentia erreicht, sie seien unterwegs von Banditen aufgehalten und ausgeraubt worden. Das glaubten ihm die Senatoren nicht, sie nahmen vielmehr an, er hätte sich das Gold angeeignet und irgendwo in den Bergen hier vergraben – deshalb wurde er so harsch verurteilt. Der Schatz blieb jedoch verschwunden, und über die Jahrhunderte haben sich Mythen darum gerankt. – Warum interessiert dich die Sache so?« Er hielt die Münze ans Licht und betrachtete sie noch einmal. »Eine Goldmünze aus Tolosa … eine Münze der Tectosagen.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wolltest du mir etwa erzählen, jemand will dir weismachen, dass dies eine Münze aus dem verloren geglaubten Goldschatz von Tolosa ist?«
Fidelma errötete leicht. »Nein, das nicht«, versicherte sie. »Ich wollte vor allem wissen, warum jemand die Seiten über Caepio aus dem Buch getrennt hat. Bruder Eolann war sehr unglücklich deswegen.«
»Dass die Beschädigung eines Buches ihn sehr gekränkt hat, kann ich durchaus verstehen. Er hätte es gleich melden müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Inhalt an sich für den Täter von Bedeutung war. Ein weit ausführlicherer Bericht über Caepio findet sich in einem anderen Buch, das ich erst kürzlich benutzt habe. Im scriptorium gibt es eine kleine Handschrift mit einer Lebensbeschreibung des Prokonsuls. Bruder Eolann war richtig stolz darauf, denn das ist eine sehr seltene Kopie. Offenbar wurde das Buch im alten Rom von den curules aediles in Acht und Bann getan.«
»Von wem, bitte sehr?«
» Curules aediles? Magistrate, Beamte im alten Rom. Seltsamerweise besitzen wir eine der Abschriften, die der Vernichtung entgingen. Sie ist vielleicht deshalb erhalten geblieben, weil ein Gallier aus Narbona – Pompeius Trogus – sie verfasst hat.«
»Warum mag man die Lebensbeschreibung des Caepio verboten haben? Lag es an dem Thema oder an dem Autor des Werks?«
»Ich könnte mir denken, das geschah, weil Prokonsul Caepio keineswegs eine Zierde der Servilius-Sippe war.«
Fidelma wollte schon gehen, doch bei dem Namen stutzte sie. »Hast du eben Servillius-Sippe gesagt?«
»Servilius war ein Vaters-oder Geschlechtername, ein Patronymikon. Der volle Namen des Prokonsuls lautete Quintus Servilius Caepio. Vita Quinti Servilii Caepionis heißt der Band, solltest du danach suchen. Der Servilius-Clan war eine alteingesessene Patrizierfamilie, schon während der Republik und auch im Kaiserreich stellten sie des Öfteren die Konsuln. Sie sind tatsächlich über sehr viele Jahrhunderte von Einfluss gewesen.«
Fidelma nahm die Münze an sich. »Danke Ehrwürdiger Ionas, dein Schatz an Weisheit war ein Gewinn für mich.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Ich würde meinen, die Geschichte, wie sie Trogus erzählt, passt recht gut in die Mythologie der alten Welt«, gab er ihr mit auf den Weg. »Er schreibt sogar, das Gold von Tolosa wurde ursprünglich aus dem heiligen griechischen Tempel von Delphi geraubt. Die Tektosagen waren einer der gallischen Stämme, die gleich nach dem Tod von Alexander dem Großen in Griechenland einfielen. Sie plünderten den Tempel des Orakels und nahmen mit, was ihnen an Gold und Wertgegenständen in die Hände fiel. Je öfter die Geschichte erzählt wurde, desto mehr wurde sie ausgeschmückt. Trogus selbst war ein Gallier und ein guter Geschichtenerzähler. Er kannte viele der örtlichen Sagen, die um die Feldzüge gegen die Gallier entstanden waren. Vielleicht wird dir aus seinem Bericht manches klarer.«
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