Der Ehrwürdige Ionas lehnte sich zurück und gluckste erneut vergnügt. »So habe ich das nicht gemeint, Fidelma.«
»Wie dann? Die Benediktinerregel verlangt, den eigenen Willen völlig zu unterdrücken, und ermahnt jedes Mitglied der Bruderschaft, sich unverzüglich, ohne Widerspruch dem Vorgesetzten, in diesem Falle dem Abt, zur Gänze unterzuordnen, denn nur bedingungsloser Gehorsam sei der erste Schritt zur christlichen Demut.«
Der Ehrwürdige Ionas schüttelte belustigt den Kopf. »Ich weiß, was die Brüder aus Hibernia von unbedingtem Gehorsam halten, doch deine Brüder sagen auch, brich dir nicht das Schienbein an einem Schemel, der gar nicht im Wege steht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ist doch ganz einfach. Der heilige Columbanus hat immer gesagt, es gibt zwei Arten von Narren, die einen, die nicht gehorchen wollen, und die anderen, die gehorchen, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Er hat durchaus bedacht, dass es dazu kommen könnte, dass die Abtei sich von seinen Regeln löst. Er hat nämlich eine Weisung für die Leitung des Klosters bei ungewöhnlichen Umständen hinterlassen, die unsere Äbte nie geändert haben. Die besteht darin, dass die beiden ranghöchsten Geistlichen den Abt zur Rechenschaft ziehen dürfen, wenn er eine fragwürdige Entscheidung getroffen hat.«
»Und diese beiden sind jetzt du und Magister Ado?«
»Gegenwärtig sind wir die beiden ranghöchsten Geistlichen.«
»Das heißt, ihr könntet den Abt zwingen, meine Fragen zu beantworten?«
»Könnten wir. Wir werden nun gehen und mit Abt Servillius reden. Ich werde dich zu meinem Gesprächsführer ernennen. Wenn er nicht gewillt ist, deine Fragen zu beantworten, werden wir warten, bis Magister Ado zurück ist – dann muss er antworten.«
»Ob das gutgeht?«
»Wirst du klare, eindeutige Fragen stellen können?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern bekräftigte: »Natürlich, da bin ich ganz sicher.«
Sie verließen die Studierstube, gingen vorbei am Durchgang zum scriptorium, dann die Treppe hinunter und quer durch die Haupthalle zur Amtsstube des Abts. In der geöffneten Tür versperrte ein Mönch den Zugang. Als sie herankamen, drehte er sich zu ihnen um. Es war der rundliche Koch, Bruder Waldipert. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er sie an, er sah kreidebleich aus. Er machte einen Schritt auf sie zu, fast schien es, er würde vor ihren Füßen zusammenbrechen. Doch er hielt sich schwankend, der Mund stand offen, hilflos bewegten sich die Lippen, brachten jedoch keinen Ton heraus.
»Was hast du, Bruder Waldipert?«, fragte ihn der Ehrwürdige Ionas.
Immer noch war der Mann nicht fähig, sich zu äußern, starrte nur an ihnen vorbei ins Leere.
Ärgerlich brummte der Geistliche etwas, schob ihn zur Seite und trat auf die Schwelle zur Abtstube. Weiter kam auch er nicht, blieb wie angewurzelt stehen. Sehr langsam drehte er sich zu dem dicken Koch um. Der zitterte immer noch an allen Gliedern. Einige Brüder gingen eben durch die Haupthalle, einem von ihnen rief der Gelehrte zu: »Lauf und hole Bruder Hnikar, er soll sofort zur Abtstube kommen, jemand … jemand ist verletzt.«
Eilfertig hastete der Mönch davon.
»Was ist passiert?«, fragte Fidelma.
»Abt Servillius ist tot«, sagte der Ehrwürdige Ionas mit bitterem Ernst.
Fidelma drängte sich an ihm vorbei, obwohl er versuchte, sie zurückzuhalten. Doch auch sie verharrte auf der Schwelle, allzu ersichtlich war, warum der der Ehrwürdige Ionas nicht weiter hineingegangen war. Abt Servillius lag unmittelbar vor der Tür hingestreckt auf dem Boden. Der Schädel war ein blutiges Etwas, zertrümmert mit einem schweren Gegenstand. Nur seine Gewänder und das Kruzifix an der Silberkette machten ihn kenntlich. Neben dem Leichnam lag ein großer bronzener Leuchter. Viel Scharfsinn brauchte man nicht, allein die Blutspuren darauf verrieten das Mordwerkzeug. Kein Unfall, ein Mord war geschehen.
»Was ist hier vor sich gegangen? Nun sag doch was!«, beschwor Fidelma den Koch.
Der hatte sich noch nicht wieder gefasst, starrte wie gebannt immer auf denselben Fleck und rang nach Worten. Für Fidelma völlig unerwartet machte der Ehrwürdige Ionas einen Schritt auf ihn zu und versetzte ihm einen Backenstreich. Der Koch wusste nicht, wie ihm geschah, stolperte zurück und fuhr sich mit einer Hand über die rot werdende Wange.
» Ignosce mihi – verzeih, Bruder Waldipert«, sagte der alte Mönch. »Ich sah keine andere Möglichkeit, dich ins Hier und Jetzt zu versetzen, und jeder Moment zählt.«
Bruder Waldipert stand und rieb sich die Wange und sah den Ehrwürdigen Ionas mit leerem Blick an.
»Was hat dich hierher getrieben?«, fragte der Ehrwürdige Ionas beharrlich.
»Ich … ich wollte dem Vater Abt ein paar Rechnungen zur Bestätigung vorlegen«, stammelte der Koch.
»Wann war das?«
»Ich bin eben erst gekommen. Ich habe angeklopft, die Tür aufgemacht und sah … sah … Ich weiß nicht, was geschehen ist. Du hast mich geschlagen, mir ins Gesicht geschlagen.«
»Du hast die Tür geöffnet, Bruder Waldipert, und sahst den Abt auf dem Fußboden liegen«, mischte sich Fidelma ein. »Hast du irgendwen im Raum gesehen, jemand, der anders als durch die Tür hinauswollte, durch das Fenster vielleicht?«
Der Koch schüttelte den Kopf. »Man kann hier nur durch die Tür hinaus. Das Fenster ist viel zu klein.«
Im Flur hörte man Schritte, und Bruder Hnikar tauchte auf. Er streifte sie nur mit einem Blick, ging in die Abtstube, kniete sich neben den Toten und untersuchte ihn flüchtig.
»Tot. Man hat ihm den Schädel eingeschlagen.«
Es war für alle offensichtlich und hätte der Feststellung nicht bedurft. Fidelma verbiss sich eine sarkastische Bemerkung und wies auf den Kerzenständer. »Vermutlich war der Kerzenhalter aus Messing da die Waffe.«
Bruder Hnikar folgte ihrer Handbewegung. »Das kann durchaus sein.«
»Wann ist das passiert?«
»Schwer zu sagen«, erwiderte der Apotheker. »Das Blut ist bereits getrocknet, die Leichenstarre ist eingetreten. Es kann schon vor einem halben Tag gewesen sein.«
»Vor einem halben Tag? Bist du dir sicher?«
Der Apotheker überging ihre Frage und wollte stattdessen wissen: »Wer hat ihn gefunden? Du?«
»Bruder Waldipert hat die Leiche entdeckt.«
Mit einem raschen Blick auf den Koch erhob sich der Heilkundige.
»Das ist eine traurige Sache«, meinte er, an den Ehrwürdigen Ionas gewandt.
»Nur allzu wahr«, bestätigte der Gelehrte. »Ich betrachte das Weitere als meine Aufgabe.«
»Wir müssen doch aber die Rückkehr von Magister Ado abwarten, ohne ihn dürfen wir keinen neuen Abt ernennen«, erklärte Bruder Hnikar widerstrebend.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich das Amt des Abts übernehme«, machte der Ehrwürdige Ionas nachdrücklich klar. »Ich übernehme lediglich die Verantwortung, bis Magister Ado wieder da ist, und dann befinden wir über die Abtei betreffende Dinge.«
»Als Erstes müssen wir in Erfahrung bringen, wann man den Abt das letzte Mal lebend gesehen hat«, mahnte Fidelma an.
Bruder Hnikar verwahrte sich gegen ihr Eingreifen. »Ich darf dich daran erinnern, dass du in der Abtei nur Gast bist. Ein angesehener Gast zwar, wie es heißt, aber dennoch nur ein Gast.«
Sich räuspernd griff der Ehrwürdige Ionas ein. »Lieber Bruder Hnikar, unser angesehener Gast hat mit Recht auf das Nächstliegende verwiesen. Wir können nicht sitzen und abwarten. Schon allein die Sitte verlangt, dass wir unseren großen Freund und früheren Abt noch heute Nacht zur letzten Ruhe betten. Auch schulden wir es ihm, seinen Mörder ausfindig zu machen.«
»Ich nehme zurück, was ich gesagt habe, Ehrwürdiger Ionas«, erklärte der Apotheker verschnupft. »Was den Mord betrifft, so war es gewiss der Versuch eines barbarischen Raubüberfalls. Die Person, die das Verbrechen verübt hat, dürfte längst in den Wäldern das Weite gesucht haben. Wir sollten Kontakt zu Wulfoald aufnehmen und ihn bitten, dass er seine Krieger auf den Täter ansetzt.«
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