Der Ehrwürdige Ionas beugte sich wieder über seine Handschrift. Draußen vor seiner Studierstube steckte Fidelma die Goldmünze sorgsam in ihren Kammbeutel. Das Patronymikon des Caepio beschäftigte sie weiter. Eine alte Patrizierfamilie, die viele Jahrhunderte überdauert hatte … Es zog sie erneut ins scriptorium . Sie glaubte langsam zu verstehen, wie die Vorfälle zusammenhingen. Bruder Eolann war immer noch nicht da, aber auf seinem Pult brannte eine Lampe, und daneben lag aufgeschlagen ein Buch. Es war das Werk des Pompeius Trogus. Auf dem Titelblatt stand: Vita Quinti Servilii Caepionis .
Verblüfft drehte sie sich um und schaute misstrauisch in die düsteren Ecken der Bibliothek. Wollte sie jemand an der Nase herumführen? Das Buch war doch nicht von selbst und gerade, als sie danach suchen wollte, auf das Pult geraten. Beunruhigt betrachtete sie die Handschrift und begann die Blätter umzuwenden. Plötzlich stockte sie; was sie sah, verschlug ihr fast den Atem.
Der Band war ohnehin nicht umfangreich, doch warum er so schmal war, fiel ihr erst jetzt ins Auge. Einige Blätter waren herausgetrennt worden.
Das sehen und wissen, wen sie zur Rede stellen musste, war eins, doch das konnte sie nicht allein tun. Also wanderte sie zurück zur Studierstube des Ehrwürdigen Ionas. Der blickte erstaunt auf, als sie, ohne anzuklopfen, eintrat und sich hinsetzte. Sie hielt ihm die Handschrift entgegen. Er erkannte sofort die Stelle, an der man Blätter herausgeschnitten hatte, und schaute Fidelma fragend an.
»Mich dünkt, es ist an der Zeit, mit Abt Servillius zu reden.« Sie legte allen Nachdruck auf den Namen des Klosterherrn.
»Abt Servillius?«, fragte der Ehrwürdige Ionas. »Warum denn das?«
»Du hast mir berichtet, Servilius ist ein nomen, ein Geschlechtername. Quintus Servilius Caepio «. Jetzt betonte sie den mittleren Namen.
Der alte Gelehrte schmunzelte. »Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht, meine Tochter. Du beißt dich an der Gleichheit der Namen fest.«
»Wie es der Zufall wollte, bin ich an verschiedene Dinge geraten, die einen Bezug zu diesem sagenhaften Goldschatz des Quintus Servilius Caepio haben. Ich glaube, der kleine Ziegenhirt Wamba wurde ermordet, weil er auf den Fundort stieß oder auf den Zugang dazu. Beides wollte der Mörder geheim halten. Man bekam Wind davon, dass Wamba zu jemandem in der Abtei darüber gesprochen hatte und dass der in der Lage sein könnte, das ganze Drumherum zu enträtseln. Deshalb beschloss der Mörder, soweit es ging, alle Hinweise auszulöschen. Dazu gehörte auch, Blätter aus Handschriften herauszuschneiden, auf denen etwas über die Geschichte des sagenumwobenen Goldschatzes stand.«
»Du meinst die Hinweise auf die Taten des Caepio. Seine Plünderung Tolosas, das Aufspüren der Mengen an Gold und Silber und wie er den Schatz in sein Land verbringen ließ, in dem er Prokonsul und Statthalter war. Dass es ihm gelang, es irgendwo zu verstecken, bevor er in Rom in Ungnade fiel und geächtet wurde.« Der Ehrwürdige Ionas musste geradezu lachen. »Das alles ist doch ziemlich weit hergeholt.«
»Der Mörder ist bestrebt gewesen, jede nur denkbare Spur zu tilgen, die zu Caepios Gold – zum Gold des Servilius führte.«
Der Ehrwürdige Ionas lehnte sich zurück und lachte immer noch vergnügt vor sich hin. »Deine Erklärungen gründen sich darauf, dass die Abstammung unseres Abts sich auf den Servilius-Clan zurückführen lässt. Das dürfte sogar zutreffen. Servillius ist ja stolz darauf, dass er einer alten Patrizierfamilie entstammt, die hier lange ansässig war. Gehst du aber so weit, zu behaupten, er wüsste um den Fundort des Caepio-Goldes und versuchte jeden davon abzuhalten, dahinterzukommen?«
»Oder er, vielleicht auch jemand anders, hat das Versteck entdeckt, dann ist Wamba zufällig darüber gestolpert und …«.
Der alte Mönch riss erschrocken die Augen auf. »Behauptest du allen Ernstes, Abt Servillius hätte Wamba ermordet, um das Geheimnis zu bewahren, wo sich das sagenhafte Aurum Tolosanum befindet? Eine unmögliche Vorstellung! Selbst wenn es existieren sollte, meinem alten Freund Servillius zu unterstellen …«
»… dass er ihn hat ermorden lassen oder ihn selbst getötet hat«, sagte Fidelma unnachgiebig.
Der Ehrwürdige Ionas schwieg eine Weile, aufmerksam erforschte er ihre Gesichtszüge.
»Ich habe längst begriffen, dass du eine sehr kluge Frau bist, Schwester«, sagte er schließlich wie ein Vater, dem es leid tut, ein irregeleitetes Kind strafen zu müssen. »Im Rechtswesen deines Landes bist du ausgebildet, ich weiß auch, dass der verehrungswürdige Gelasius im Lateranpalast große Stücke auf dich hält, wie auch der Heilige Vater selbst, weil du den Mörder von Erzbischof Wighard dingfest gemacht hast. Aber was du da dem armen Servillius zur Last legst, ist einfach nicht hinzunehmen. Ich kenne ihn seit dem Tag, an dem er in die Abtei kam.«
»Ich erhebe Beschuldigungen gegen jemand nie leichtfertig«, erwiderte sie.
»Dann erzähle mir deine Geschichte von Anfang an und benenne die Beweise für deine Behauptung, danach überlegen wir weiter.«
»Die Geschichte ist ziemlich lang, und sie beginnt mit der Ermordung unseres Bruders Ruadán.«
Noch einmal wurden die Augen des ehrwürdigen Gelehrten ganz groß. »Ermordung?«, brachte er ungläubig heraus.
Langsam und bedacht trug Fidelma ihre Geschichte vor. Allmählich schwanden die Zweifel auf dem Gesicht des Alten und wichen gespannter Aufmerksamkeit. Nicht ein einziges Mal unterbrach er sie. Als sie endete, saß er mit gesenktem Haupt da und schwieg. Dann atmete er tief durch.
»Und all das ist dir widerfahren, du armes Kind, seit du hier in unserer Abtei Bobium bist? Du hättest schon längst zu mir kommen sollen.«
»Wie hätte ich dir vertrauen können?«, wandte Fidelma ein. »Nicht einmal jetzt bin ich sicher, ob ich dir vertrauen kann. Ich weiß nur, dass ich in äußerster Not bin und mich einfach jemandem anvertrauen muss.«
Der alte Klosterbruder schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Mir kannst du vertrauen, meine Tochter. Wir gehen jetzt gemeinsam hinüber und legen Abt Servillius all diese Fragen unmittelbar vor.«
»Er könnte sie von sich weisen«, gab Fidelma zu bedenken.
»Das mag wohl sein. Aber aus dem, wie er einige Aspekte der Vorgänge erklärt, lassen sich Schlüsse ziehen, die zur Aufdeckung der Wahrheit führen.«
»Freilich habe ich keinerlei Berechtigung, einen Abt zu befragen.«
»Das ist mir bewusst. Seit ich das Leben des Columbanus geschrieben und mich oft mit deinen Landsleuten aus Hibernia unterhalten habe, ist mir die Rolle der Brehons in deiner Heimat verständlich. Der Ehrwürdige Gelasius, nomenclator des Heiligen Vaters, hatte dich beauftragt, Ermittlungen zum Tod von Erzbischof Wighard von Canterbury anzustellen. Soviel ich weiß, geschah das über die Köpfe der für Recht und Ordnung im Lateran zuständigen Beamten, sogar über den Kopf des superista der Lateran-Wache hinweg.«
»Das hatte seine politischen Gründe«, erklärte Fidelma, »denn der Erzbischof gehörte einem fremdländischen Volksstamm an, und auch der mutmaßliche Mörder kam aus einem anderen Land – er war einer der frommen Brüder aus Hibernia. Zudem geschah es sehr wohl mit Wissen und Billigung des superista Marinus, des Obersten Befehlshabers der Schutztruppe im Lateran, nicht über seinen Kopf hinweg, wie du eben meintest.«
»Du bist gründlich bis aufs i-Tüpfelchen, wie es sich in deinem Beruf gehört. Und Gründlichkeit ist, was wir hier brauchen. Doch vor allem wollte ich sagen, was der Ehrwürdige Gelasius und der Heilige Vater für gut erachtet haben, sollte auch für uns in der Abtei hier gut genug sein.«
»Du bist sehr freundlich. Aber der Einzige, der in der Abtei wesentliche Entscheidungen treffen kann, ist Abt Servillius selbst. Seine Autorität darf nicht angezweifelt werden, und schon gar nicht, seit ihr die Regula des Benedikt eingeführt habt. Glaubst du, du könntest das Wunder bewirken, dass er mir gestattet, ihm Fragen zu stellen, wenn ich ihn doch beschuldige, eine Zentralfigur bei verübten Morden gewesen zu sein? Ich müsste ihn wegen eines Verbrechens befragen, bei dem er der einzige Tatverdächtige ist.«
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