Menschen faszinierten Mrs. Murphy. Sie vergeudeten ihre Zeit mit der Verfolgung völlig unwesentlicher Ziele. Nahrung, Kleidung und Obdach genügten ihnen nicht, und wegen ihrer Spielsachen machten sie sich und alle in ihrer Umgebung verrückt, Tiere eingeschlossen. Mrs. Murphy fand Autos, ein Motorspielzeug, absurd. Dafür wurden Pferde geboren. Und überhaupt, wozu die große Eile? Nun, wenn die Menschen Geschwindigkeit wollten, konnte sie das vielleicht noch akzeptieren - es war schließlich ein körperliches Vergnügen. Nicht akzeptieren konnte sie, daß diese Geschöpfe schufteten und schufteten und dann keine Freude hatten an dem, wofür sie schufteten; sie waren zu sehr damit beschäftigt, Dinge zu bezahlen, die sie sich nicht leisten konnten. Bis sie das Spielzeug bezahlt hatten, war es abgenutzt, und sie wollten ein neues. Schlimmer noch, sie waren mit sich selbst nicht zufrieden. Sie waren ständig auf einem Selbstverbesserungstrip. Das erstaunte Mrs. Murphy. Warum konnten die Leute nicht bloß sein? Sie mußten immer die besten sein. Arme, kranke Wesen. Kein Wunder, daß sie an Krankheiten starben, die sie selbst verursachten.
Ein Grund, weswegen sie Harry liebte, war der, daß Harry tierähnlicher war als andere Menschen. Sie hielt sich gern im Freien auf. Sie war nicht von dem Drang getrieben, eine Menge Spielsachen zu besitzen. Sie war zufrieden mit dem, was sie hatte. Mrs. Murphy wünschte, Harry müßte nicht jeden Tag ins Postamt gehen, aber es machte Spaß, die anderen Leute zu sehen; wenn sie schon arbeiten mußte, dann war diese Arbeit gar nicht so übel. Die Leute allerdings verachteten Harry, weil sie keinen Ehrgeiz hatte. Mrs. Murphy fand die Leute idiotisch. Harry war besser als irgendeiner von ihnen.
So gut Harry war, sie hatte auch die Schwächen ihrer Gattung. Paarung war etwas Kompliziertes für sie. Scheidung, eine menschliche Erfindung, komplizierte die Simplizität der Biologie noch mehr. Ferner entgingen Harry Mrs. Murphys Mitteilungen. Obgleich Harry die Nacht nicht fürchtete, war sie nachts verwundbar. Vielleicht fühlten sich Menschen in der Dunkelheit als Beute, weil sie so schlechte Augen hatten.
Die Menschen verknüpften Nachttiere mit dem Bösen. Besonders Fledermäuse machten ihnen angst, was Mrs. Murphy albern fand. Die Menschen wußten nicht genug über das Gleichgewicht der Natur, sonst würden sie nicht hingehen und die Tiere töten, die sie störten. Sie töteten Fledermäuse, Kojoten, Füchse - die Nachtjäger. Mit ihren Ängsten und ihrer Unfähigkeit, den Zusammenhang zwischen den Tierarten, sie selbst eingeschlossen, zu begreifen, brachten sie alle in eine traurige Lage. Mrs. Murphy, die halb zahm war und ihre Nähe zu Harry genoß, hatte nicht den Wunsch, die nicht zahmen Tiere getötet zu sehen. Sie verstand, weshalb die wilden Tiere die Menschen haßten. Manchmal haßte sie sie auch, Harry ausgenommen.
Der Schatten einer Bewegung ließ sie aufmerken. Ihre Ohren zuckten. Sie atmete tief ein. Was tat der hier?
Geschmeidig, stattlich, bewegte sich Paddy auf die rückwärtige Veranda zu.
»Hallo, Paddy.«
»Hallo, meine Süße.« Paddys tiefes Schnurren war hypnotisierend. »Was machst du in dieser schönen, milden Nacht?«
»Große Gedanken denken und die Wolken beobachten, die den Mond umkreisen. Warst du jagen?«
»Ein bißchen dies, ein bißchen das. Ich bin wegen der Heilkräfte der samtigen Nachtluft draußen. Und was waren deine großen Gedanken?« Seine Schnurrhaare hoben sich glitzernd von seinem schwarzen Gesicht ab.
»Daß die sogenannten bösen Tiere wie Kojoten, Fledermäuse und Schlangen der Erde nützlicher sind als manche Menschen.«
»Ich kann Schlangen nicht ausstehen. «
»Aber sie sind nützlich.«
»Ja. Sie können sich weit von mir entfernt nützlich machen.« Er leckte seine Pfote und putzte sich das Gesicht. »Warum kommst du nicht raus zum Spielen?«
Er war verführerisch, wenngleich sie wußte, was für ein Taugenichts er war. Er war noch immer der bestaussehende Kater von Crozet. »Ich muß auf Harry aufpassen.«
»Es ist mitten in der Nacht, sie ist in Sicherheit.«
»Hoffentlich, Paddy. Ich mache mir Sorgen wegen dieses Mörders.«
»Ach, Unsinn. Was hat der mit Harry zu tun?«
»Sie steckt ihre Nase in Sachen, die sie nichts angehen. Miss Amateurdetektiv.«
»Weiß der Mörder das?«
»Das ist es ja eben. Wir wissen nicht, wer es ist, nur daß es jemand ist, den wir kennen.«
»Der Sommer ist eine eigenartige Zeit, um jemanden zu töten«, überlegte Paddy. »Im Winter kann ich es verstehen, wenn die Nahrung knapp ist - nicht daß ich es billige. Aber im Sommer ist genug für alle da.«
»Sie töten nicht der Nahrung wegen.« »Wohl wahr.« Menschen langweilten Paddy. »Siehst du die Glühwürmchen tanzen? Das möchte ich gerne tun: im Mondlicht tanzen, die Sterne ansingen, geradewegs zum Mond hochspringen.« Er schlug einen Purzelbaum.
»Ich bleib hier.«
»Ach, Mrs. Murphy, du bist viel zu ernst geworden. Ich erinnere mich, wie du Sonnenstrahlen nachgejagt bist. Sogar mir bist du nachgejagt.«
»Bin ich nicht. Du bist mir nachgejagt.« Ihr Fell sträubte sich.
»Ha, alle Models sind mir nachgejagt. Ich fand es wundervoll, von einer herrlichen Tigerin gejagt zu werden, deren Name ausgerechnet Mrs. Murphy war. Die Menschen geben uns die albernsten Namen. «
»Paddy, du bist von Katzenminze und Mondschein besoffen.«
»Nicht Muff oder Schnuff oder Schneeball oder Flitzi oder meinetwegen Quasseline, sondern Mrs. Murphy.« Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin nach Harrys Großmutter mütterlicherseits genannt, das weißt du ganz genau.«
»Ich dachte, sie nennen ihre Kinder nach ihren Großeltern, nicht ihre Katzen. Och, komm doch raus. Wie in guten alten Zeiten.«
»Legst du mich einmal rein, ist es deine Schande, legst du mich zweimal rein, ist es meine Schande«, sagte Mrs. Murphy mit Bestimmtheit, aber ohne Groll.
Er seufzte. »Ich bin treu auf meine Art. Ich bin heute nacht hier, oder?«
»Und du kannst dich schleichen.«
»Bist ein zähes Mädchen, M. M.« Er war das einzige Tier, das sie M. M. nannte.
»Nein, ein kluges. Aber du kannst mir einen Gefallen tun. «
»Welchen?« Er grinste.
»Wenn du etwas hörst oder siehst oder riechst, das dir verdächtig vorkommt, sag es mir.«
»Mach ich. Und mach dir keine Sorgen mehr. Die Zeit wird der Gerechtigkeit voll und ganz Genüge tun.« Er stellte seinen üppigen Schwanz mit einem Ruck senkrecht und zockelte davon.
Von den dunkelroten Türen der Lutheranischen Kirche von Crozet strahlte die Morgenhitze ab. Vor der Kirche lungerten die schweißgebadeten Kamerateams aus Washington, Richmond und Charlottesville. Das bißchen Friede, das der Stadt geblieben war, wurde von den Nachrichtenteams der Fernsehsender zerstört, deren Produzenten beschlossen hatten, die Story groß rauszubringen. Der zweite Mord mitten im Sommerloch war für sie ein Geschenk Gottes.
In der schlichten Kirche drängten sich die Menschen, unsicher, wer Freund und wer Feind war, wenngleich sie sich nach außen hin alle gleich gaben: freundlich.
Der mit einem schönen weißen Lilienzweig geschmückte Sarg stand vor dem Altargitter. Josiah hatte nichts vergessen. Zwei schlichte Blumenarrangements standen zu beiden Seiten des goldenen Altarkreuzes. Maudes Crozeter Freunde hatten die Kirche mit Blumen geschmückt. Nur wenige hatten sie gut gekannt, aber nur einer hatte ihren Tod gewollt. Die anderen trauerten ehrlich um Maude. Sie war eine Bereicherung für die Stadt gewesen, und sie würde ihnen fehlen.
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