Diego schritt in den Garten. Harry erwartete ihn in einem schlichten Kleid, das ihr aber sehr gut stand. Sie saß zurückgelehnt auf einer hübschen Bank, die im achtzehnten Jahrhundert angefertigt worden und ein kleines Vermögen wert war. Tally fand, dass Gegenstände benutzt werden sollten. Ihr einziges Zugeständnis an den Wert der Bank war es, die Gartenmöbel jeden Abend in den großen Abstellraum schaffen zu lassen. Sie hatte Freude an ihrem George-II.-Silber, ihrem Hepplewhite- Sofa, den Stühlen, dem ganzen Drum und Dran, das alten Virginia-Wohlstand verkörperte, aber sie war nicht von ihrem Besitz besessen. Auch gab sie nicht damit an. Das taten nur Neureiche.
Diego verbeugte sich, dann küsste er Harrys rechte Hand, indem er mit den Lippen ihren Handrücken streifte, so wie es sich gehörte. »In Zukunft werde ich den Frühling mit Ihnen gleichsetzen.«
Sie lachte. »Diego, Sie verstehen es, einer Frau den Kopf zu verdrehen.«
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken holen?«
»Ich glaube, das werden Sie müssen, weil Tante Tallys Butler es wohl kaum von der Bar bis in den Garten schaffen wird.« Sie bemerkte seinen fragenden Blick und wies dann auf den Butler, der zufällig gerade langsam an der offenen Fenstertür vorbeischlurfte.
»Ah, ein Herr in der Fülle seiner Jahre.«
»Bevor Sie mir was zu trinken holen, muss ich Tante Tally meinen Respekt erweisen. Ich bin hinten ums Haus gelaufen und habe mich nicht in die Empfangsreihe gestellt, weil ich wollte, dass Sie mich im Garten finden. Jetzt habe ich wohl den Eindruck verdorben, weil ich's Ihnen erzählt habe. Ich war spät dran, weil die Kühe von meinem Nachbarn durch den Zaun gebrochen sind und ich sie zurücktreiben musste. Mein Nachbar versteht so gut wie nichts von Landwirtschaft, außerdem ist er zu Fotoaufnahmen für Nordstrom in Seattle. Ich hab's gerade noch geschafft!«
»Ist er Fotograf?«
»Model. Little Mim war verrückt nach ihm. Sind Sie Marilyn schon begegnet?«
»Nur kurz, auf dem Weg zu Ihnen.«
Harry stand auf, etwas unsicher auf den hohen Absätzen.
»Ich weiß nicht, warum ich so viel rede. Ich bin eigentlich ziemlich schweigsam. Jeder wird Ihnen das sagen und noch eine Menge mehr, denke ich.« Sie lächelte, ihre weißen Zähne unterstrichen ihre klaren, offenen Züge.
»Ich begleite Sie zu Tante Tally, der Erhabenen. Ich nehme an, sie hat sich ihren Namen bei der Jagd verdient?« Er spielte auf den Jagdruf tally-ho an, wenn ein Fuchs gesichtet wird.
Harry strahlte. »Oh, Sie kennen sich mit der Fuchsjagd aus?«
»Tally-hoch«, rief er, als sie an der Bar vorbeigingen und Ned Tucker eine Flasche mächtig teuren Champagner in die Höhe hielt.
Beide lachten, als Roger ein bisschen zu laut sagte: »Komm schon, Ned. Hör auf mir zu erzählen, wie toll er ist und schenk ein, verdammt.«
»Ein Künstler?« Diego bemerkte Rogers Aufzug ... knapp daneben, obwohl er ein Sportsakko anhatte. Die Cowboystiefel machten es auch nicht besser.
»Äh - Autoschlosser. Er und sein Bruder Sean haben eine Altwarenfirma mit architektonischen Bruchstücken, Säulen und so was. Ist ganz interessant.« Sie waren bei der Schlange angelangt, die für Tante Tally anstand. Big Mim hatte sich zu ihrer Tante gestellt.
Kaum hatten Harry und Diego sich eingereiht, da trat ausgerechnet Fair hinter sie, der mit seinen einsfünfundneunzig alle überragte.
»Harry.« Er gab seiner Ex-Frau einen Kuss. Er wusste von BoomBoom, dass Harry bei den Südamerikanern »aushalf«, wie BoomBoom es ausdrückte, aber natürlich hatte Boom es unterlassen, Diego zu beschreiben. Als Harry sie miteinander bekannt machte, hatte Fair Mühe, seine Überraschung und Bestürzung zu verbergen. Er fasste sich. »Willkommen in Crozet.«
»Danke.« Diego schüttelte ihm kräftig die Hand.
In diesem Moment kam Harry bei Tante Tally und Big Mim an. Die beiden Damen erfassten die Situation. Ein verschlagenes Lächeln huschte über Tante Tallys Lippen, die großzügig, aber nicht nachlässig mit einem Lancôme- Lippenstift geschminkt waren.
»Tante Tally, ich hab geschummelt.«
»Ich weiß, aber Sie haben es für eine gute Sache getan.« Sie bot Harry ihre Wange zum Kuss. »Ich sah Ihre Tiere hier durchstürmen, da wusste ich, Sie konnten nicht weit sein. Ihre eine Katze, die graue, wird mich um Haus und Hof fressen.«
»Seien Sie froh, dass sie nicht trinkt.«
Tally lachte. »Tja, so ist das. Und Mr. Aybar, Sie dürfen mir auch einen Kuss geben, da Sie mich ja nun kennen.« Sie hielt ihm die andere Wange hin, und Diego küsste sie auf die Wange, dann küsste er ihre Hand.
Er verbeugte sich und küsste auch Big Mim die Hand. Ihre Miene hellte sich merklich auf.
Als Harry und Diego weitergingen, machten Tante Tally und Big Mim ein großes Tamtam um Fair, wie nett es von ihm sei, auf eine Verabredung mit Harry zu verzichten, damit die Herren aus Uruguay nicht allein seien, was das Abfohlen mache, wie es ihm gehe und so weiter.
Als Fair weiterging und rasch von Lottie Pearson abgefangen wurde, die einen geblümten Hut trug, flüsterte Tally ihrer Nichte zu: »Ich li-i-iebe meine Partys. Ja-ha.«
»Du bist unverbesserlich.« Big Mim lachte, dann begrüßte sie Cynthia Cooper, die ebenfalls in einem Frühjahrskleid steckte. »Ich glaube nicht, dass ich Sie schon einmal so reizend gesehen habe.«
Die groß gewachsene Frau gab gut gelaunt zurück: »Mrs. Sanburne, ich glaube nicht, dass Sie mich schon einmal in einem Kleid gesehen haben.«
»Hm ... ja.«
»Sie sind groß, Mädchen. Ihnen würde alles stehen, sogar ein Kettenhemd«, sagte Tante Tally. »Kommt Ihr Chef auch?«
»Der Sheriff sagt, er will versuchen, es möglich zu machen, aber er ist heute ein bisschen im Rückstand.«
»Es ist nett von ihm, dass er Sie bei uns sein lässt.« Tally ließ ihre Hand los, und Cynthia begab sich zu ihrer Freundin Harry.
Big Mim flüsterte: »Polizeischutz. Du hast mir nicht gesagt, dass du Polizeischutz angefordert hast.«
»Hab ich nicht. Ich kann Cynthia Cooper gut leiden.« Tally strahlte Lynne Beegle an, eine beliebte Reiterin, die in der Empfangsreihe vorrückte.
Harry, Diego und Cooper plauderten drauflos, und alsbald gesellten sich Miranda Hogendobber, Tracy Raz, Susan Tucker und Ned dazu. Sie feierten Tracys Rückkehr, stellten fest, dass Diego viel Sinn für Humor hatte und amüsierten sich prächtig miteinander.
In einer Ecke wehrte Lottie Pearson Roger O'Bannon ab. Mit einem Lächeln wies sie seine Avancen zurück. Sie würde es nie zugeben, aber sie genoss die Aufmerksamkeit. Fair, der nicht ihr Begleiter war, hatte ihr etwas zu trinken geholt und dann die Runde gemacht. Im Augenblick unterhielt er sich mit Little Mim über Bebauungsvorschriften, kein Lieblingsthema von ihm, aber eins von ihr.
Lottie zog eine Zigarette aus ihrer kleinen mit Perlen bestickten Unterarmtasche. »Verdammt.« Sie fand kein Feuerzeug.
Roger nahm ein buntes Streichholzbriefchen aus seinem Sportsakko, zündete ein Streichholz an und gab ihr Feuer.
»Hier, kannst du behalten.« Er machte eine Pause. »Ich hol dich um acht ab«, erklärte er.
»Nein, tust du nicht.« Sie warf den Kopf zurück.
»Ich geh auch heute Abend mit dir auf Mims Ball. Du hast keine Verabredung. Und ich begleite dich zum Abbruchball.«
»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Lottie verstimmt. »Ich hab eine Verabredung für heute Abend.«
»Ein kleines Vögelchen.«
Sie erspähte BoomBoom drüben im Raum. »Ein großes Rotkehlchen. Warte, bis ich die in die Finger kriege.«
»Mir wär lieber, du würdest mich in die Finger kriegen.«
Die das mithörten, unterdrückten ein Kichern, sorgsam darauf bedacht, nicht zu dem drohenden Drama hinzustarren.
»Roger, träum schön weiter.«
»Weißt du, was mit dir los ist, Lottie? Du bist ein verdammter Snob. Und weißt du, was noch? Ich hab noch nie einen Snob gesehn, der wirklich froh wäre, weil es so wenige Menschen gibt, zu denen er sich herablassen kann, verstehst du? Und du brauchst Freunde auf dieser Welt. Du brauchst Freunde. Die Welt ist manchmal grausam. Du brauchst Freunde, und du brauchst was zu trinken.«
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