»In den Garten.« Harry lächelte.
»Nein, in dem Garten«, berichtigte BoomBoom. »Hört, ich muss jetzt wieder auf meinen Wagen. Diego, die beiden besten Plätze, sich die Parade anzusehen, sind hinten auf Harrys Transporter oder die Ecke Route 240 und Whitehall Road.«
»Versuchen Sie's mit dem Transporter«, stammelte Harry.
»Die zwei Katzen sind gute Gesellschafterinnen.«
Die zwei Katzen lachten in eben diesem Augenblick über ihre Mutter, die völlig aus dem Häuschen war. Keine konnte sich erinnern, Harry jemals so gesehen zu haben.
»Die besten Freunde kommen auf vier Beinen daher«, sagte Diego mit seiner betörenden hellen Baritonstimme.
»»Also das ist mal ein Mann mit Verstand.« Mrs. Murphy trat vor, um ihn zu begrüßen, als er graziös auf die Ladefläche sprang.
»Noch eine Minute«, rief Harry ins Megaphon.
Reverend Herb Jones richtete sich gerade auf, holte tief Luft. In dem Auto hinter ihm gab Little Mim ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. Die Fahrer ließen die Motoren an. Einige Kapellenmitglieder warfen die Schultern zurück, andere leckten ihre Mundstücke an, während die Trommler erwartungsvoll ihre Stöcke wirbelten.
»Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins - los!«, rief Harry.
Die Trommler klapperten rhythmisch mit ihren Stöcken. Die vier Highschool-Kapellen, die, gleichmäßig verteilt, die Parade begleiteten, marschierten an ihre Plätze. Reverend Jones fuhr vorneweg langsam vom Schulplatz. Die St.-Elizabeth-Kapelle, die als Erste mit Musik dran war, ging anfangs nur mit Basstrommeln los, bumm, bumm, bumm, dann kamen die Schnarrtrommeln hinzu, und binnen einer Minute schmetterten alle die stets beliebte Titelmelodie von Rocky.
Harry winkte jeder Gruppe zu, als sie an ihr vorbeizog. Sie hörte das Gejohle der vielen Menschen, die sich am Straßenrand drängten. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hatte ein Gefühl, als würde ihr eigenes Leben an ihr vorbeiziehen. Der Anblick von Tally Urquhart in ihrer Rikscha, die an ihrer zweiundneunzigsten Parade teilnahm (Tally war schon als Kleinkind ein Star gewesen), ließ die Tränen fließen.
Was für ein großes Glück ist es doch, dort zu sein, wo man Menschen kennt, wo man Menschen liebt und hoffentlich von ihnen geliebt wird. Dass ihre Familie unmittelbar nach dem Unabhängigkeitskrieg hier heimisch geworden war, nachdem es sie von der Küstenebene fort trieb, wo sie seit 1640 gelebt hatte, stärkte ihr Heimatbewusstsein nur noch mehr.
Tucker drückte sich an Harry. Tucker liebte Musik. Die Katzen waren auf das Dach des Transporters gesprungen, um ja nichts zu verpassen.
Harry winkte Freunden und Nachbarn zu, als sie vorüberzogen, und dann sah sie wieder zu Diego hin. Sein Lächeln war fünftausend Megawatt stark. Sie lächelte zurück, froh, dass dieses kleine Stück von Virginia ihm gefiel. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass auch sie ihm gefiel.
Harry war zumute, als würde ihre Brust zerspringen. Die Freude, so groß, wie Gram tief war, überwältigte sie nahezu.
Es waren nur drei Kilometer von der Highschool bis zur Hauptkreuzung der Stadt, aber die Strecke war hügelig. Dies berücksichtigend, hatten die Konstrukteure der Festwagen Geländer und Stützen ersonnen, etwa imitierte Steinblöcke mit kleinen Handgriffen daran, an denen sich die Leute auf den Wagen festhalten konnten, wenn diese bergab rollten.
Lottie Pearson hatte das vergessen. Als der Festwagen der Töchter der Konföderation sich kurz vor der Feuerwache abwärts neigte, taumelte sie vom Wagen, und nur das Metall in ihrem Reifrock, der zuerst auf dem Pflaster landete, rettete sie. Sie blieb unverletzt, und Freunde, die an der Paradestrecke standen, halfen ihr wieder hinauf. Roger konnte den Wagen nicht verlassen. Lotties Rock war verbogen, was zur Folge hatte, dass ihre lange Unterhose hervorguckte. Jedes Mal, wenn sie den Rock zurechtschob, rutschte er hinten hoch. Das erzeugte Hochrufe und Gelächter, aber nicht von der Art, die sie zu hören gehofft hatte. Da sie die führende Dame ganz vornean auf dem Wagen war, wollte sie ihren Posten nicht aufgeben. Wenn sie die Wahl hatte, ihren Hintern zu zeigen oder sich zurückzuziehen, beschloss Lottie tapfer, ihren Hintern zu zeigen.
Als die letzte Kapelle vom Parkplatz marschierte, die schwarzrote von der Albemarle Highschool, sprang Harry von ihrem Sockel.
»»Mom ist ein bisschen braun geworden. Sieht gut aus zu ihrem weißen T-Shirt«, bemerkte Pewter, als Harry ihren Pullover auszog, da es wärmer wurde. Kichernd erinnerte Pewter sich an den Anblick, wie Harry ihre Jeans und ihr T-Shirt gebügelt hatte.
»»Niemand sieht in Jeans besser aus als Harry«, rief Tucker hinter ihrer Mutter hervor. »»Ich meine, wenn dieser Mensch einen trainierten Körper mag, dann muss er Mom mögen.«
Mrs. Murphy liebte ihre Mutter, aber ihr war klar, dass nicht alle Männer natürliche Frauen mögen. Viele, von Künstlichkeit angezogen, wollen üppiges Haar, vorzugsweise blond, bis zum Maximum hochgepuschte Titten, lange Fingernägel, teure Kleider und vollendetes Make-up. Mit einem Wort, BoomBoom.
Harry war tatsächlich eine schöne Frau, aber sie hatte keinen Sinn dafür. Die hohen Wangenbeine unterstrichen die wunderbare Struktur ihrer Gesichtsknochen. Ihre langen schwarzen Wimpern lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre sanften braunen Augen. Sie trug selten Lippenstift auf den vollen Lippen. Die kurzen schwarzen Haare ringelten sich unmittelbar oberhalb ihres Nackens. Aber man musste Harry schon sehr genau anschauen, um ihre Schönheit wahrzunehmen. Die Schönheit einer Frau wie BoomBoom sprang einem direkt ins Auge.
Da Harry frei von Eitelkeit war, konnte sie sich auf ihr jeweiliges Gegenüber konzentrieren. Sie hielt sich nicht für hübsch. Sie sorgte sich nicht darum, was für einen Eindruck sie machte. Ihr Augenmerk galt dem anderen Menschen. Diese Eigenschaft betörte mehr Männer als ihr Aussehen, sobald sie sie einmal genau betrachtet hatten. Sie hatte etwas Unschuldiges an sich. Nie, nicht ein einziges Mal, war ihr in den Sinn gekommen, dass Männer sie attraktiv finden könnten. Sie hatte ihren Ex-Mann seit dem Kindergarten gekannt. Die Kunst zu flirten, Männer zu verführen, erschien ihr unerheblich, weil sie Fair immer geliebt hatte. Als er sie verließ, nahm sie an, dass sie nie wieder lieben würde. Sie ließ keine Tiraden vom Stapel, wie schrecklich die Männer seien, dass sie die Frauen ausnutzten und dann fallen ließen, der übliche Aufschrei der verlassenen Frau. Harry hatte Frauen gesehen, die sich Männern gegenüber abscheulich benahmen. Für sie war ein Geschlecht so schlimm wie das andere.
Fairs Bemühungen um Versöhnung rührten sie. Sie liebte ihn aufrichtig, aber jetzt auf ganz andere Weise. Anfangs meinte sie ihm nie wieder vertrauen zu können. In letzter Zeit dachte sie, dass sie es vielleicht doch könnte. Er hatte etwas gelernt und sie hatte etwas gelernt, aber das Schwierige dabei war, dass sie nicht wusste, ob sie wieder romantische Gefühle für ihn empfinden würde. Mit Sicherheit konnte sie mit ihm ins Bett gehen. Sie kannte seinen Körper wie eine Blinde die Blindenschrift. Aber das schließt romantische Sehnsucht nicht ein.
Sie teilte diese Gedanken Susan oder Miranda nicht mit. Harry behielt ihre geheimsten Gedanken für sich; manchmal fragte sie die Tiere nach ihrer Meinung.
Als Mrs. Murphy Harry auf den Transporter zukommen sah, spürte sie die Leichtigkeit ihres Schritts und die aufwallende Energie, die das Gesicht ihres Menschen verklärte.
»»Wie könnte Diego Mom nicht mögen . .. aber ist er gut genug?«
Mrs. Murphy streckte sich. »»Immerhin können wir Charaktere besser beurteilen als Menschen. Wir müssen diese Situation durchleuchten.«
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