»Schonzeit.« Roger schnippte mit den Fingern, ganz der jüngere Bruder, ein bisschen aufsässig. »Weißt du, dass ich jetzt im fünfzehnten Jahr einen Festwagen fahre? Krieg ich 'nen Orden dafür?«
»Nein, Roger. Das zeigt, dass du ein Masochist bist.« Harry lachte.
»Seit ich den Führerschein habe.«
»Lügner.« Sean stieß seinen Bruder an. »Du bist schon gefahren, bevor du den Führerschein hattest.«
»Aber keinen Festwagen.«
»Wenn Dad hier wäre, würde er das regeln.«
»Ist er aber nicht.« Roger gab Harry einen Klaps auf den Rücken. »Leg bei Lottie ein gutes Wort für mich ein.«
»Wieso?«
»Sie spielt die Unnahbare.«
»Kluges Mädchen.« Sean lachte.
Roger knurrte ihn an, fletschte die Zähne wie Fänge. Das erschreckte Tucker, die zurück knurrte. »Ich möchte, dass sie mit mir auf den Abbruchball geht.«
»Du machst meinen Hund nervös«, sagte Harry zu Roger.
»Dieselbe Wirkung hat er auf Lottie.«
»Sean.« Roger hob in höchster Verzweiflung die Hände.
»Was wollen die Weiber?«
»Frag uns, immer eine auf einmal«, erwiderte Harry rasch.
Roger lachte. »Gut gegeben.«
Sean sagte zu Roger: »Beharrlich sein und Geschenke schicken. Funktioniert bei mir immer.«
»Ach? Seit wann?« Roger zog an Seans Pferdeschwanz.
»Du fährst ihren Festwagen. Das sollte deine Hormone anstacheln.« Sean brachte seinen Pferdeschwanz wieder in Ordnung. »Zeig ihr, dass sie was Besonderes ist.«
»Jungs, soll ich lieber gehn?«
»Ich sagte Hormone. Von seiner Spermienzahl war nicht die Rede.« Sean feixte. »Da ist ihm nicht zu helfen.«
Harry hob die Hände. »So genau wollte ich's gar nicht wissen! Jeder geht jetzt wieder zu seinem Festwagen.«
»Du bist mit Frauen schlimmer als ich«, gab Roger seinem Bruder flugs zurück.
»Nun?« Harry verschränkte die Arme.
»Ich gehe.« Roger machte auf dem Absatz kehrt.
»Ich nicht.« Sean wartete, bis sein Bruder außer Hörweite war, dann flüsterte er: »Meinst du, es würde was nützen, wenn du mit Lottie sprichst?«
»Bestimmt nicht. Sie ist sauer, weil BoomBoom für mich eine Verabredung mit jemand arrangiert hat, mit dem sie auf den Ball gehn wollte.«
»Wer ist es?«
»Ich kenne ihn nicht. Ein Freund aus Washington. Lottie kennt ihn auch nicht, aber er ist neu, und er hat eine gute Stellung bei einer Botschaft. Die Vorstellung hat sie wohl gereizt. So oder so, auf mich würde sie nicht hören. Bitte Little Mim, dass sie euch hilft, Lottie hat für das Fest mit ihr zusammengearbeitet. Ist 'nen Versuch wert.«
Sean lächelte matt. »Danke, Har.« Er ging ein paar Schritte, dann drehte er sich zu ihr um. »Er ist ganz okay, ein bisschen ungeschliffen. Typischer Motorfreak.«
»Ich weiß.« Sie blinzelte, als Sean sich aufmachte, um Little Mim zu suchen.
Harry sah auf ihre Uhr, dann auf ihr Klemmbrett. Sie überprüfte die Festwagen. Der Wagen von O'Bannon's Salvage war eine sorgsame Rekonstruktion von Monticello, aus Schrott gefertigt.
»Die gewinnen mit Sicherheit den Preis«, flüsterte ihr Reverend Herb, der hinter sie getreten war, ins Ohr.
Harry wandte sich wieder ihrer Liste zu. »Herb, Sie sehen blendend aus, und Sie werden in etwa fünfzehn Minuten losziehen. Wir haben die St.-Elizabeth-Kapelle gleich hinter Ihnen und dem Mah-Jongg-Club.«
Die Mah-Jongg-Damen, die meisten in Rikschas, die von strammbeinigen Burschen gezogen wurden, trugen chinesische Kleider. Der Club existierte seit den 1920er Jahren, und dies waren die übrig Gebliebenen, unter ihnen Tante Tally Urquhart in einem stahlblauen Kleid.
Harry griff nach dem Megaphon, als sie den quadratmetergroßen Holzsockel erklommen hatte, der ihr als Kommandostand diente. »Hey, Leute.« Alle plapperten noch. »Erde an Parade. Erde an Parade.« Langsam verstummten die Versammelten, vielleicht fünfhundert an der Zahl. »Noch zehn Minuten bis zum Start. Wenn ihr noch mal aufs Klo müsst, dann geht jetzt.« Kichern und Gelächter. »Denkt dran, die Parade dauert immer länger als wir denken. Entlang der Strecke stehen Leute mit Eimern voll Eis, Wasserflaschen, Gatorade. Die sind für euch da. Wenn ihr auch nur ein kleines bisschen durstig seid, ruft rüber, und sie bringen euch was zu trinken.«
»Scotch mit Eis«, brüllte Tante Tally; für eine Frau über neunzig hatte sie eine kräftige und jugendliche Stimme.
»Oh, Sie haben mir mein Geschenk vermasselt.« Reverend Herb Jones trabte hinüber und überreichte ihr eine Flasche guten Scotch; alles ringsum schrie vor Lachen, und als der Vorfall von vorne nach hinten weitergesagt wurde, erklang immer wieder Gelächter.
»»Ich könnte ein bisschen Katzenminze vertragen.« Pewter war Harry dankbar, dass sie eine große Schüssel mit Wasser sowie Katzenkekse in den Transporter gestellt hatte, aber sie hätte gern auch Katzenminze gehabt.
»»Dann steig doch in eine Rikscha. Das erhöht deine Chancen.«
Murphy lachte.
»»Ja, warum nicht.« Die graue Katze lehnte sich über die Kante des Transporters.
Harry sah wieder auf die Uhr. »Noch acht Minuten.«
Eine sportliche Gestalt joggte neben den versammelten Festwagen her.
»Willkommen daheim!« Harry strahlte, als sie Tracy Raz sah.
»Hey, Mädel.« Sie beugte sich herunter, und er gab ihr einen Kuss. »Ich komm später zu Ihnen. Knuddel ist nervös. Ich glaube, ihre Tröte ist ein bisschen rostig.« Er lachte über Miranda, die er manchmal »Knuddel« nannte, das war ihr Spitzname aus der Highschoolzeit.
Miranda war die Stimmführerin der Kirche zum heiligen Licht, und der Chor hatte sich auf einem Festwagen aufgestellt, der den Namen »Treppe zum Paradies« trug - was anderes hätte man auch nicht erwartet.
»Haben Sie BoomBoom gesehen?«
»Vor einer Minute. Aufgedonnert.« Er lächelte.
»Kein Wunder. Hey, Sie kommen doch zum Tanztee. Wir sehen uns dort.«
»Alles klar.« Er gab ihr noch einen Kuss und joggte die Wagenreihe zurück bis dorthin, wo Miranda in ihrem Chorgewand zu sehen war, mit dem Rücken zu Harry. Die anderen Chormitglieder nahmen auf der Treppe zum Paradies ihre Plätze ein. Einige machten den Eindruck, als würde ihr Schöpfer sie in Bälde zu sich rufen.
»»Mom, vergiss bloß nicht, selbst Wasser zu trinken«, bellte die stets fürsorgliche Tucker.
Harry stieg herunter, nahm den Hund auf den Arm und kletterte wieder hinauf. Sie verstand nicht ein Wort von dem, was der Corgi gesagt hatte.
Jim Sanburne und Little Mim saßen in einem offenen Cabrio hinter Herbs Festwagen.
Harry lächelte ihnen zu und sie lächelten zurück. »Little Mim, Sean sucht dich.«
»Er hat mich gefunden. Ich werde tun was ich kann«, lautete die wenig begeisterte Antwort.
Lottie war auf dem dritten Festwagen, »Töchter der Zeit«, der von den Vereinigten Töchtern der Konföderation gesponsert wurde. Lotties Reifrock war so weit, dass ein steifer Wind sie in die Luft befördern könnte. Roger fuhr diesen Wagen, Sean fuhr den O'Bannon-Festwagen.
»Noch vier Minuten«, rief Harry.
Ein Zupfen an ihren Jeans ließ sie sich umdrehen. Boom-Boom, für den Festwagen der Herz-Hilfe als Zwanziger-Jahre-Feger kostümiert, sagte: »Ich möchte, dass du Diego vor dem Tee kennen lernst. Mary Minor Haristeen, darf ich vorstellen, Diego Aybar.«
Harry machte den Mund auf, aber es kam erst mal nichts heraus. Sie starrte in die klaren braunen Augen eines der bestaussehenden Männer, denen sie je begegnet war. »Äh - willkommen in Crozet.«
»Es ist mir ein Vergnügen. BoomBoom sagt, ich solle Sie in Tante Tallys« - er sagte »Tante Tallys« mit einem spanischen Akzent und einem Anflug von Belustigung - »Garten treffen. Sie sagt, alle verlieben sich in dem Garten.«
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