»Ich sehe mich mal um.«
Coop eilte durch den Hauptkorridor. Sie hörte hinter sich eine Tür schlagen und die Stimmen der Fingerabdruck- und Laborleute.
Sie stieß rußige erbsengrüne Türen auf, dahinter verbargen sich Vorräte, leere Kartons, dies und jenes. Die alte Verbrennungsanlage war intakt. Schließlich fand sie die Waschküche, die zum alten Trakt des Krankenhauses gehörte. Dort fiel ihr nichts auf.
Als sie wieder zu Rick kam, zuckte sie mit den Achseln. »Nichts.« Sie schwieg einen Moment. »Mir ist da ein Gedanke gekommen. Bin gleich wieder da. Ich wollte Ihnen bloß schnell sagen, daß es vielleicht eigene Waschküchen für die neueren Bereiche des Krankenhauses gibt. Die müssen wir schleunigst durchsuchen.«
»Wohin gehen Sie?«
»Verbrennungsanlage.«
Sie lief in den Flur zurück, öffnete die Tür und ging hinein. Einstmals waren Körperteile in dem Ofen verbrannt worden. Heutzutage galt dergleichen als umweltschädlich, weshalb die Teile aus dem Krankenhaus gebracht und anderswo verbrannt wurden. Eine sonderbare Vorstellung, mit Gallenblasen und Säuferlebern beladene Transportautos, die die Main Street entlang zu ihrem Bestimmungsort rollten, aber die Gesetze machten solchen Widersinn zur Normalität.
Sie durchsuchte jeden Winkel des Raumes, dann griff sie sich den Eisenhaken und öffnete schwungvoll den Verbrennungsofen. Eine Flammenwand schlug ihr ins Gesicht. Instinktiv knallte sie die Tür wieder zu. Wenn jemand ein Beweisstück da hineingeworfen hatte, dann war es jetzt vernichtet.
»Verdammt!« Sie wischte sich das Gesicht ab, hängte den Haken wieder an seinen Platz und ging hinaus.
Rick machte sich an der Leiche zu schaffen. Mit dünnen Plastikhandschuhen, den gleichen, die sie im Krankenhaus trugen, durchsuchte er Hanks Taschen. Am Gürtel des Toten hing ein Schlüsselbund. In der linken Tasche hatte er 57,29 Dollar. Die rechte Tasche enthielt seine Autoschlüssel und ein zusammengefaltetes Notizblatt, eine Einkaufsliste. Rick steckte alles in Hanks Taschen zurück.
»Dann mal los, Jungs. Tut was ihr könnt.« Er stand auf und schob Coop von den anderen weg. »Gehen wir in Hanks Büro, bevor wir das Krankenhauspersonal verständigen.«
»Chef, wer hat Sie angerufen? Und warum ist sonst niemand hier?«
»Bobby Minifee hat mich mit seinem Handy angerufen. Ich habe ihm geraten, mit niemandem zu sprechen und bei der Leiche zu bleiben. Er ist draußen bei Petey im nicht gekennzeichneten Wagen.«
Bobby Minifee war Hanks Gehilfe.
Petey D'Angelo, ein junger Polizeibeamter, entwickelte ein gutes Gespür für seine Arbeit. Rick und Coop, die mit vierunddreißig selbst noch jung war, konnten ihn beide gut leiden.
»Demnach hoffen Sie, daß keiner was hiervon weiß außer Bobby Minifee und dem, der Hank umgebracht hat?«
»Ja. Deshalb möchte ich in Hanks Büro. Bobby sagt, es liegt in der nördlichsten Ecke des Gebäudes. Wir sind hier in der Mitte, also nehmen wir diesen Flur.« Als sie bei der trüben Kellerbeleuchtung weiter gingen, fluchte Rick: »Scheiße, das ist wie ein Labyrinth in der Hölle.«
»Wenn Sie den Weg nicht kennen, stoßen Sie mit dem Minotaurus zusammen.«
»Das muß ich mir merken.« Er erinnerte sich vage an das Wesen aus der griechischen Mythologie, das halb Stier, halb Mensch war.
Sie gelangten an eine offene Tür, an der auf einem schwarzen auswechselbaren Namensschild gut sichtbar der Name Hank Brevard zu lesen war. Das geräumige Büro war mit Aktenschränken voll gestopft. Hinter Hanks einigermaßen aufgeräumtem Schreibtisch stand ein hölzerner Drehstuhl, wie ihn Lehrer hatten, und davor ein neuerer, ansehnlicherer Stuhl für Besucher.
Coop wühlte in Schubladen, Rick zog die Karteikästen heraus.
»Die Aufzeichnungen reichen zehn Jahre zurück. Wenn das hier nur zehn Jahre sind, dann möchte ich auf keinen Fall sämtliche Aufzeichnungen durchsehen müssen.«
»Ich hab hier einen Stapel Rechnungen von Tiger Fuel. Ein Bild von Frau und Kindern.« Sie hielt inne. Wem würde die schreckliche Aufgabe zufallen, es ihnen zu sagen? Sie zog die lange mittlere Schublade auf. »Bleistifte, Kulis, eine kleine Lampe, Büroklammern. Ah.« Sie zog die Schublade noch weiter heraus. Ganz hinten lagen ein paar Kuverts. »Plan für die Winterbasketball-Liga. Reparaturrechnung für sein Auto. Ein neuer Generator. Dreihundertneunundvierzig Dollar inklusive Arbeitsstunden. Das schmerzt. Und.« Sie drehte sich um. »Haben Sie was?«
»Wir werden die Hälfte unserer Mannschaft brauchen, um die Aktenschränke durchzugehen, und wir werden es tun, aber. nein, im Moment springt mir nichts ins Auge, abgesehen von Mäuseköteln.«
»Wir brauchen Mrs. Murphy.«
»Sie machen schon genauso einen Zirkus um die Katze wie Harry.«
Coop zog den letzten Brief aus dem aufgeschlitzten Umschlag. »Schwester Sophonisba wird Ihnen Glück bringen.« Sie lachte leise. »Eher nicht.« Sie warf einen Blick auf das Datum. »Er hat wohl nicht rechtzeitig zwanzig Kopien gemacht.«
»Herrgott, was reden Sie da?«
»Ein Kettenbrief. Man soll binnen drei Tagen zwanzig Kopien verschicken. Die drei Tage sind um.«
Rick trat zu ihr, schnappte sich den Kettenbrief und las: »>Sie ignorieren diesen Brief auf eigene Gefahr. < Unter den gegebenen Umständen ist das wie ein widerwärtiger Scherz.« Er gab Coop den Brief zurück, die ihn in den Umschlag zurücksteckte. »So, suchen wir Sam Mahanes.«
»Es ist Samstagabend.«
»Hm, hm. Ich gehe ihn suchen. Sie kriegen raus, wer Samstagabend der Obermacker ist.«
»Chef, wann benachrichtigen wir die Leute?«
»Erst wenn ich mit Sam gesprochen habe und Sie mit wem auch immer geredet haben. Ich denke, es ist sowieso schon zu spät. Der Mörder ist über alle Berge.«
»Oder über uns.« Sie blickte zur Decke.
»Das wär's erst mal. Ich schicke Petey zu Lisa Brevard. Er muß lernen, schlimme Nachrichten zu überbringen. Da kann er gleich damit anfangen. Ich behalte Bobby Minifee bei mir - vorläufig.«
»Rick, glauben Sie, Bobby könnte es getan haben?«
»Ich weiß nicht. Im Moment weiß ich nicht viel, außer daß unser Mörder kräftig ist, sehr kräftig, und daß er weiß, wo er einen Schnitt ansetzen muß.«
Das Gesicht weiß wie der Schnee, der sich überall im Bezirk noch hielt, klammerte sich Bobby Minifee an die Halteschlaufe über dem Fenster auf der Beifahrerseite des Streifenwagens.
Rick zündete sich eine filterlose Camel an und öffnete das Fenster einen Spalt. »Was dagegen?«
»Sie sind der Sheriff«, sagte Bobby.
»Soll ich anhalten?«
»Nein, warum?«
»Sie sehen aus, als müßten Sie sich übergeben.«
Bobby atmete krampfartig ein, schüttelte den Kopf. Minifee, einundzwanzig Jahre alt, sah gut aus. Er arbeitete nachts im Krankenhaus, um über die Runden zu kommen. Tagsüber studierte er am Piedmont Community College. Der Junge, der aus armen Verhältnissen stammte, hoffte anschließend an das Virginia Technical College in Blacksburg zu gehen. Er war intelligent und wollte Maschinenbauingenieur werden. Je länger er studierte, desto klarer wurde ihm, daß es ihm fließende Kräfte angetan hatten, Wellen, Wasser, alles was floß. Er wußte nicht, wohin ihn das führen würde, aber im Moment stellte er Betrachtungen über eine andere Art des Fließens an.
»Sheriff, Sie sehen so was sicher andauernd. Blut und alles.«
»Genug. Meistens Autounfälle. Tja, und dann und wann einen Mord.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß Blut so schießen kann. Es war überall an der Wand.«
»Wenn die Drosselvene durchtrennt wird, pumpt das Herz, das ja unweit der Kehle liegt, das Blut heraus wie einen Strahl. Er ist erstaunlich, der Körper des Menschen. Erstaunlich. Hat er noch so stark geblutet, als Sie ihn fanden?« Rick tastete sich langsam an weitere Fragen heran. Als er zum Tatort gekommen war, hatte er Bobby schonend behandelt; denn der Junge hatte gezittert wie Espenlaub.
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