»In mancher Hinsicht, ja.«
»Er verdient Hölle und Verdammnis.«
Ich holte die Videokamera aus der Tragtasche und führte sie ihm vor, erklärte ihm, daß er direkt in das Objektiv sprechen solle.
»Erzählen Sie mir, was Ihrem Sohn passiert ist?« fragte ich.
»Ja.«
Ich balancierte die Kamera auf einem Haufen Schrott und setzte sie in Gang; und mit nur wenigen direkten Zwischenfragen von mir wiederholte er im wesentlichen die bekannte Geschichte. Maynard war in einer vorübergehenden Finanzkrise, verursacht durch die rasche Expansion des Unternehmens, lächelnd zu Hilfe gekommen. Er hatte zu niedrigen Zinsen Geld geliehen, im letzten und ungünstigsten Augenblick aber die Rückzahlung verlangt; hatte die Firma übernommen und George Tarker hinausgeworfen, nach einiger Zeit dann alles, was von Wert war, abgestoßen, die Eigentumsrechte verkauft und die Belegschaft auf die Straße gesetzt.
»Charmant«, sagte George Tarker. »Charmant war er. Wie ein Betrüger, bis zum Schluß. Vernünftig. Freundlich. Dann verschwand er, und alles andere mit ihm. Die Firma meines Sohnes, weg. Er hat sie gegründet, als er gerade achtzehn war, und geschuftet noch und noch . und nach dreiundzwanzig Jahren wuchs sie zu schnell.«
Das hagere Gesicht starrte voll ins Objektiv, und Wasser stand in den Winkeln beider Augen.
»Mein Sohn George ... mein einziges Kind ... er gab sich selbst die Schuld an allem ... die Schuld daran, daß seine Arbeiter ihre Stellung verloren. Er fing an zu trinken. Er verstand soviel von Elektrizität.« Die Tränen traten über die unteren Augenlider und rollten an den faltigen Wangen hinab, um sich im Bart zu verlieren. »Mein Sohn hat sich an Drähte angeschlossen ... und sich unter Strom gesetzt .«
Seine Stimme brach ab wie mit dem Schlag, der das Herz seines Sohnes zum Stehen gebracht hatte. Ich fand es unerträglich. In tiefem Mitleid wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Ich schaltete die Kamera ab und stand schweigend da, wußte nicht, wie mich für eine solche Einmischung entschuldigen.
Er wischte die Tränen mit dem Handrücken fort. »Vor etwas mehr als zwei Jahren«, sagte er. »Er war ein guter Mensch, wissen Sie, mein Sohn George. Dieser Allardeck ... hat ihn einfach vernichtet.«
Ich bot ihm die gleiche Summe an, die ich den Perrysides gegeben hatte, legte sie vor ihn auf den Schreibtisch. Er starrte eine Weile auf das flache Bündel Banknoten und schob es dann zu mir hin.
»Ich habe es Ihnen nicht für Geld erzählt«, sagte er. »Behalten Sie’s. Ich habe es Ihnen für George erzählt.«
Ich zögerte.
»Nehmen Sie es«, sagte er. »Ich möchte es nicht. Kommt mir nicht richtig vor. Sie können mich bezahlen, wenn Sie mal ein Boot zu reparieren haben.«
»In Ordnung«, sagte ich.
Er nickte und sah zu wie ich die Scheine an mich nahm.
»Machen Sie einen guten Film«, sagte er. »Tun Sie’s für George.«
»Ja«, sagte ich; und er saß immer noch da und starrte gequält in die Vergangenheit, als ich ging.
Ich fuhr mit den gleichen Sicherheitsvorkehrungen nach Ascot wie zuvor, ließ den Mercedes unten in der Stadt und betrat die Rennbahn aus der dem offiziellen Parkplatz der Jockeys entgegengesetzten Richtung. Soweit ich sehen konnte, nahm keiner von meiner Ankunft Notiz außer den Männern an der Kasse mit ihrem gewohnten »guten Morgen«.
Ich startete in den ersten fünf der sechs Rennen; zwei Ritte für die Prinzessin, noch zwei andere für Wykeham, einer für den Trainer aus Lambourn. Dusty teilte mir mit, daß Wykeham wegen einer scheußlichen Migräne ans
Haus und an den Bildschirm gebunden sei. Icefall, sagte Dusty, müsse ganz klar Erster werden, und sämtliche Pfleger hätten ihre Löhne auf ihn gesetzt. Dustys Verhalten mir gegenüber war wie üblich eine Mischung aus Respekt und Gehässigkeit, eine zwiespältige Haltung, die ich vor langem schon in ihre Bestandteile zerlegt hatte: Ich mochte zwar für den Stall siegen, aber die Kondition der Pferde war das Werk ihrer Pfleger, und das durfte ich nicht vergessen. Dusty und ich arbeiteten seit zehn Jahren in einer Art Waffenstillstand zusammen, weil wir aufeinander angewiesen waren; aktive Freundschaft wurde weder angestrebt, noch war sie notwendig. Er sagte, der Chef bitte mich, der Prinzessin und den anderen Besitzern sein Bedauern wegen seiner Kopfschmerzen auszurichten. Ich werde es bestellen, sagte ich.
Ich ritt eines von Wykehams Pferden im ersten Rennen ohne nennenswerten Erfolg und wurde im zweiten Lauf Dritter für den Trainer aus Lambourn. Das dritte Rennen war Icefall für die Prinzessin, und sie und Danielle warteten nach dem Lunch mit strahlenden Augen im Führring, als ich dorthin kam.
»Wykeham läßt sich entschuldigen«, sagte ich.
»Der arme Mann.« Die Prinzessin glaubte ebensowenig an die Migräneanfälle wie ich, aber sie war bereit, so zu tun als ob.
»Schenken wir ihm einen Sieg, um ihn zu trösten?«
»Ich fürchte, das erwartet er.«
Wir sahen Icefall herumgehen, grau und muskulös unter seiner Wappendecke, kompakter als sein leiblicher Bruder Icicle.
»Ich habe ihn vorige Woche trainiert«, sagte ich. »Wykeham meint, er hat sich seitdem mächtig gesteigert. Es besteht also Hoffnung.«
»Hoffnung?« sagte Danielle. »Er ist heißer Favorit.«
»Haushoch«, nickte die Prinzessin. »So richtig freuen kann man sich darüber nie.«
Sie und ich tauschten Blicke aus in dem Bewußtsein des zusätzlichen Drucks, der durch zu hochgespannte Erwartungen entstand, und als ich zum Aufsitzen ging, sagte sie nur: »Kommen Sie heil über die Runden, dann ist es gut.«
Icefall war mit sechs Jahren auf der Höhe seiner Hürdenkondition. Er konnte auf eine Serie von Erfolgen zurückblicken, und sein Rennen an diesem Tag war ein vielbeachteter, mit viel Geld geförderter 2-Meilen-Wettbewerb, der sich, wie das bei hochdotierten Rennen schon mal vorkam, auf ganze sechs Teilnehmer beschränkte. Icefall an der oberen Grenze des Handicaps, die anderen fünf an der unteren; der Mittelblock hatte beschlossen, auf weniger heikle Konkurrenzen auszuweichen.
Icefall war ein leicht zu reitendes Pferd, so bereitwillig wie sein Bruder und von Natur aus mutig, und die einzige vorhersehbare Schwierigkeit bestand darin, daß er gut zehn Kilo mehr als die anderen trug. Wykeham sah seine Pferde nie gern als Frontläufer und hatte manchmal versucht, mich davon abzuhalten, Icefall auf diese Art zu reiten, aber das Pferd war eindeutig dafür und ließ mich das bei jedem Start wissen. Sosehr die Gewichte gegen uns sprachen, auch jetzt waren wir, als die Bänder hochschnellten, da, wo wir sein wollten, und gaben das Tempo an.
Ich hatte in meinen Teenagerjahren von einem amerikanischen Galopprennreiter gelernt, eine Uhr in meinem Kopf einzuschalten, das Tempo jedes Rennabschnitts nach dieser Uhr zu messen und abzuschätzen, wie schnell ich jeden Abschnitt gehen konnte, um die Bestzeit des Pferdes über die Distanz einzustellen oder an sie heranzukommen.
Icefalls Bestzeit über zwei Meilen in Ascot, mit fast dem gleichen Gewicht auf ähnlich nassem Boden, war drei Minuten achtundvierzig Sekunden, und ich nahm mir vor, ihn in genau dieser Zeit an die Ziellinie zu bringen, bei mehr oder weniger gleichbleibendem Tempo über die ganze Strecke.
Die Zuschauer auf den Rängen hatten, wie ich hinterher erfuhr, den Eindruck, daß ich es zu schnell angegangen war, daß einige der Leichtgewichte mich garantiert einholen würden; aber ich hatte auch deren Zeiten nachgeschlagen, und keines von ihnen war die zwei Meilen je so schnell gelaufen, wie ich es beabsichtigte.
Icefall brauchte lediglich perfekt zu springen, und das tat er und teilte mir seine Freude mitten in der Luft bei jeder Hürde mit. Die Leichtgewichter kamen nie an uns heran, und wir gingen ohne nachzulassen mit acht Längen Vorsprung ins Ziel, ein Abstand, der für Icefalls Handicap beim nächsten Start überhaupt nicht günstig war.
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