»Nun?« fragte Eric Olderjohn, mich beobachtend.
»Das ist komisch«, sagte ich verblüfft.
»Ja, seltsam, finde ich auch.«
Er streckte die Hand nach den Briefen, nahm sie mir ab, verschloß sie wieder sicher in seinem Koffer. Ich saß da, während meine Gedanken sich überschlugen und unbe-zweifelte Annahmen zerrannen wie Wachs.
Traf es zu, hatte ich wissen wollen, daß Maynard Allardeck für die Adelsverleihung in Betracht gezogen wurde, und wenn ja, wer wußte davon?
Die Leute, die ihn vorgeschlagen hatten - sie wußten es.
Der Brief von der Stiftung, datiert vom 1. Oktober, war unterzeichnet von Lord Vaughnley.
Warum«, sagte ich, »hat Ihre gewisse Person Ihnen erlaubt, mir diese Briefe zu zeigen?«
»Ah.« Eric Olderjohn legte seine Finger zu einem Spitzgiebel zusammen und studierte sie eine Weile. »Warum glauben Sie wohl?«
»Er könnte es für möglich halten«, sagte ich, »daß ich ein paar stille Teiche aufrühre und ein paar halbklare Antworten bekomme, ohne daß er selbst eingreifen muß.«
Eric Olderjohn richtete sein Augenmerk von seinen Händen auf mein Gesicht. »So ungefähr«, sagte er. »Er hätte beispielsweise gern die Gewißheit, daß Maynard Allardeck nicht nur das Opfer einer Hetzkampagne ist. Er möchte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ihn vielleicht beim nächsten Durchlauf wieder auf die Liste setzen, für einen Ritterschlag im Sommer.«
»Er möchte Beweise?« fragte ich.
»Können Sie die liefern?«
»Ja, ich glaube.«
»Was gedenken Sie zu tun«, fragte er mit trockenem Humor, »wenn Sie das Rennreiten aufgeben müssen?«
»Mich ins Meer stürzen, wie es aussieht.«
Ich stand auf, und er ebenfalls. Ich dankte ihm herzlich für die Mühe, die er auf sich genommen hatte. Er sagte, ich würde hoffentlich beim nächsten Mal wieder auf seinem Pferd gewinnen. Tu’ mein Bestes, antwortete ich und
warf einen letzten anerkennenden Blick auf seine Wohnzimmerlaube, bevor ich zurück zum Hotel ging.
Lord Vaughnley, dachte ich.
Am 1. Oktober hatte er Maynard für die Adelsverleihung empfohlen. Gegen Ende Oktober oder Anfang November war Bobbys Telefonleitung angezapft worden.
Die Abhöranlage von Jay Erskine installiert, der zwei Wochen lang lauschte und dann die Artikel in der Flag schrieb.
Jay Erskine hatte früher für Lord Vaughnley gearbeitet, als Gerichtsreporter beim Towncrier.
Wenn Lord Vaughnley aber Jay Erskine auf Maynard Allardeck angesetzt hatte, warum war Nestor Pollgate dann so aggressiv?
Weil er kein Entschädigung zahlen oder nicht zugeben wollte, daß seine Zeitung unrecht getan hatte.
Nun ... vielleicht.
Ich bewegte mich im Kreis und kam immer wieder auf die zentrale und unerwartete Frage zurück: War es wirklich Lord Vaughnley, der die Angriffe veranlaßt hatte, und wenn ja, warum?
Von meinem Hotelzimmer aus rief ich Rose Quince privat an und erwischte sie wiederum kurz nachdem sie heimgekommen war.
»Bill?« sagte sie. »Staatsangestelltenhilfe? Oh, sicher, er ist Schirmherr von einer Menge Geschichten. Alles mögliche. So verliert er den Kontakt nicht, sagt er.«
»Mm«, sagte ich. »Als Sie den Artikel über Maynard schrieben - hat er das angeregt?«
»Wer? Bill? Ja, klar. Er legte mir die Ausschnitte aus der Flag auf den Tisch und meinte, das wär’ doch was für mich. Ich mag ihn zwar schon ewig kennen, aber er ist und bleibt der Boss. Wenn er etwas geschrieben haben will, wird es geschrieben. Martin, unser großer weißer Häuptling, gibt da immer seinen Segen.«
»Und, ehm, wie sind Sie auf das Handel-heute-Interview gekommen? Ich meine, haben Sie die Sendung gesehen, als sie ausgestrahlt wurde?«
»Du liebe Zeit. Selbstverständlich nicht.« Sie hielt inne. »Bill empfahl mir, mich an die Fernsehanstalt zu wenden und um eine private Vorführung zu bitten.«
»Was Sie getan haben.«
»Ja, natürlich. Hören Sie«, fuhr sie auf, »was soll denn das? Bill schlägt mir oft Themen vor. Da ist nichts dabei.«
»Nein«, sagte ich. »Schlafen Sie schön, Rose.«
»Ihnen auch eine gute Nacht.«
Ich schlief lang und tief, und früh am Morgen nahm ich die Videokamera und fuhr über das flache Land unmittelbar nördlich der Themsemündung nach Purfleet. Der Regen vom Vortag hatte sich verzogen, den Himmel fahl und leer zurückgelassen, und Möwen kreisten hoch über dem Niedrigwasser.
Ich fragte an etwa zwanzig Stellen, im Postamt und in Läden, bevor ich irgend jemand fand, der von Purfleet Electronics gehört hatte, wurde endlich aber zu jemand geschickt, der dort angestellt gewesen war.
»Sie brauchen George Tarker ... dem hat es gehört«, sagte er.
Nach einigen weiteren Hinweisen von hilfsbereiten Einwohnern hielt ich schließlich an einem heruntergekommenen alten Bootsschuppen, den ein optimistisches Schild schmückte mit der Aufschrift: »George Tarker flickt alles.«
Wenn man ausstieg und über den langen Vorhof ging, konnte man sehen, daß das Schild früher eine untere Hälfte gehabt hatte, die gegen die Wand gestellt war und lautete: »an Boot und Schiff«.
Mit dem lausigen Gefühl, völlig verkehrt gelandet zu sein, drückte ich die klapprige Tür auf und trat geradewegs in das unordentlichste Büro der Welt, einen Raum, wo jede Ablage und jedes Bord mit nicht identifizierbaren Haufen von Schiffszubehör fortgeschrittenen Alters bedeckt war und wo jedes Fleckchen Wand von bejahrten Kalendern, Plakaten, Rechnungen und Bedienungsanleitungen vereinnahmt wurde, die nicht mit Reißzwecken, sondern mit Nägeln befestigt waren.
In einem durchgesackten alten Sessel saß, unbeeindruckt von dem Durcheinander, ein älterer, graubärtiger Mann mit den Füßen auf einem Schreibtisch, las Zeitung und trank aus einer Tasse.
»Mr. Tarker?« sagte ich.
»Der bin ich.« Er ließ die Zeitung sinken und betrachtete mich kritisch über seine Schuhspitzen hinweg.
»Was möchten Sie repariert haben?« Er blickte zu der Tasche in meiner Hand, die die Kamera enthielt. »Ein Bootsteil?«
»Ich fürchte, ich bin hier falsch«, sagte ich. »Ich suche Mr. George Tarker, den früheren Inhaber von Purfleet Electronics.«
Behutsam setzte er seine Tasse auf den Schreibtisch und seine Füße auf den Boden. Ich erkannte, daß er ebensosehr durch eine innere Müdigkeit alt war wie durch die Jahre; es deutete sich in der schlaffen Schulterhaltung und in den tiefliegenden Augen an, und es schrie aus der ganzen Unordnung um ihn herum.
»Dieser George Tarker war mein Sohn«, sagte er.
War.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Möchten Sie etwas repariert haben oder nicht?«
»Nein«, sagte ich. »Ich möchte mich über Maynard Allardeck unterhalten.«
Die Wangen sanken in tiefe Schatten ein, und die Augen schienen dunkel in ihre Höhlen zurückzutreten. Er hatte schütteres graues Haar, ungekämmt, und unter dem kurzen Bart, an dem dünnen Hals im aufgeknöpften, schlipslosen Hemd, strafften sich die Sehnen und fingen an zu zittern.
»Ich möchte Sie nicht beunruhigen«, sagte ich; aber ich hatte es getan. »Ich drehe einen Film über die Schäden, die Maynard Allardeck im Leben vieler Leute angerichtet hat. Ich hoffte, daß ... Ich hoffte, Ihr Sohn ... könnte mir dabei behilflich sein.«
Ich machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. »Mir ist klar, daß es Sie so oder so nicht beeinflussen würde, aber ich biete ein Honorar an.«
Schweigend starrte er mir ins Gesicht, sah jedoch, wie mir schien, etwas völlig anderes - blickte zurück in die Erinnerung und fand sie nahezu unerträglich. Die Anspannung in seinem Gesicht verstärkte sich in einem Maße, daß ich wirklich bedauerte, gekommen zu sein.
»Wird Ihr Film ihn vernichten?« sagte er heiser.
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