Da meine Nachbarin und der Jockeykollege aus Lambourn sich in der Frage des Koffers mit den Kleidern als zuverlässig erwiesen hatten, ging ich in einem salonfähigeren Aufzug hinauf in Lord Vaughnley s Loge. Offenbar hatte ich mir aber die windstille Pausenzeit ausgesucht, wo alle noch unten waren, um sich die Pferde für den letzten Lauf anzusehen oder zu wetten.
Oben stand nur eine einzige Person nervös neben dem zum Tee gedeckten Tisch, trat von einem Fuß auf den anderen, und ich erkannte überrascht, daß es Hugh Vaughnley war, Lord Vaughnleys Sohn.
»Tag«, sagte ich. »Noch keiner hier ... ich komme wieder.«
»Gehen Sie nicht.«
Seine Stimme war drängend. Ich schaute ihn neugierig an, dachte an den Familienkrach, der am vorigen Samstag so offensichtlich im Gange gewesen war, sah nichts als Sorge in dem normalerweise fröhlichen Gesicht. Er war viel dünner als sein Vater, mehr nach seiner Mutter in der Statur, hatte klare, ebenmäßige Züge, zwei entwaffnende Grübchen und noch etwas Kindhaftes in der Unentschlossenheit seines Mundes. Etwa neunzehn, dachte ich. Vielleicht zwanzig. Älter nicht.
»Ich ... ehm ...«, sagte er. »Bleiben Sie. Um ehrlich zu sein, ich möchte, daß jemand hier ist, wenn sie wiederkommen.«
»So?«
»Ehm ...«, sagte er. »Die wissen nicht, daß ich hier bin. Ich meine, Dad könnte wütend sein, und das kann er ja nicht vor fremden Leuten, nicht wahr? Deswegen bin ich zum Pferderennen gekommen. Also, ich weiß, daß Sie kein Fremder sind, aber Sie wissen schon, was ich meine.«
»Ihre Mutter freut sich doch bestimmt, Sie zu sehen.«
Er schluckte. »Ich hasse Zank mit ihnen. Ich verkrafte das nicht. Um ehrlich zu sein, Dad hat mich vor beinah einem Monat rausgeworfen. Er läßt mich bei Saul Bradley wohnen, und das halte ich nicht mehr lange aus, ich will nach Hause.«
»Er hat Sie rausgeworfen?« Ich muß mich so überrascht angehört haben, wie ich war. »Sie schienen immer so eine stabile Familie zu sein. Findet er, daß Sie auf eigenen Füßen stehen sollten? Irgend so etwas?«
»Nein. Ich wünschte, das wär’s. Ich habe was gemacht ... ich wußte nicht, daß er darüber so unheimlich böse sein würde ... wirklich nicht .«
Ich wollte nicht hören, was es war, ich hatte schon soviel anderes im Kopf.
»Drogen?« fragte ich teilnahmslos.
»Was?«
»Haben Sie Drogen genommen?«
An seinem Gesicht sah ich, daß es das nicht war. Die Vermutung verblüffte ihn einfach.
»Ich meine«, sagte er traurig, »er hielt doch so viel von ihm. Das sagte er. Also, ich dachte, er fände ihn in Ordnung.« »Wen?« sagte ich.
Er schaute mir jedoch über die Schulter und antwortete nicht, und eine neue Welle nervöser Angst löschte alles andere aus.
Ich drehte mich um. Lord und Lady Vaughnley waren vom Gang her durch die Tür gekommen und näherten sich uns. Ich sah ihre Mienen ganz deutlich, als sie ihren Sohn erblickten. Lady Vaughnleys Gesicht erhellte sich in einem spontanen, unkomplizierten Lächeln.
Lord Vaughnley blickte von seinem Sohn zu mir, und seine Reaktion war nicht Vergebung. Gleichgültigkeit, Gereiztheit oder etwa Zorn.
Es war Bestürzung. Es war Entsetzen.
Er fand einigermaßen rasch die Fassung wieder. Lady Vaughnley schloß Hugh in die Arme und drückte ihn, und ihr Mann sah sich das ungehalten mit steinerner Miene an. Andere Gäste kamen gutgelaunt zurück in die Loge, und Hugh hatte insoweit recht, als sein Vater nicht bereit war, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu streiten.
Lord Vaughnley beschäftigte sich vielmehr intensiv mit mir, brachte Tee unter die Leute und stellte sicher, daß ich nicht weiter mit seinem Sohn sprach. Es schien ihm zu entgehen, daß seine erste Reaktion und sein jetziges Verhalten mir sehr viel mehr verrieten, als er wahrscheinlich wollte.
»Das hätten wir«, sagte er herzlich, als er eine Kellnerin anschleifte, die mir eine Tasse gab. »Milch? Zucker? Nein? Prinzessin Casilias Stute ist doch in Ordnung, ja? So traurig, wenn ein Pferd im Rennen zusammenbricht. Sandwich?«
Ich sagte, die Stute werde keine Rennen mehr laufen, und lehnte das Sandwich dankend ab.
»Hugh hat Sie mit seinen Problemen belästigt, wie?« sagte er.
»Nicht direkt.«
»Was hat er gesagt?«
Ich blickte in die grauen Augen, aus denen die Freundlichkeit durch Wachsamkeit verdrängt worden war.
»Er sagte, er habe sich mit Ihnen gezankt und wolle sich wieder vertragen.«
»Pfff.« Ein unversöhnlicher Laut aus zusammengepreßtem Mund. »Aber er ist Ihnen nicht lästig gefallen?«
»Nein.«
»Gut. Gut. Dann wollen Sie bestimmt mit Prinzessin Casilia sprechen, hm? Geben Sie mir ruhig Ihre Tasse. Nett, daß Sie heraufgekommen sind. Tja. Dann mal ab mit Ihnen. Man kann sie ja schlecht warten lassen.«
Ohne unverschämt zu sein, hätte ich nicht bleiben können, und mit Unverschämtheit war meiner Ansicht nach an diesem Punkt nichts zu erreichen. Gehorsam ging ich zur dichtbevölkerten Loge der Prinzessin hinüber, trank weiteren Tee, lenkte meinen Magen von einem weiteren Sandwich ab und bemühte mich, nicht allzuviel auf Danielle zu schauen.
»Sie sind zerstreut«, bemerkte die Prinzessin. »Sie sind gar nicht hier.«
»Ich dachte an Lord Vaughnley ... ich komme gerade von seiner Loge.«
»Solch ein netter Mann.«
»Mm.«
»Und was haben Sie mit Danielle für heute abend geplant?«
Ich sperrte die Gedanken an das, was ich gern wollte, aus. Wenn ich die Gedanken der Prinzessin lesen konnte, so konnte sie gelegentlich auch meine lesen.
»Ich nehme an, wir werden uns unterhalten, zusammen essen, und dann bringe ich sie nach Hause.«
Sie tätschelte mir den Arm. Sie zog mich ins Gespräch mit ihren Gästen, und ich arbeitete mich zu Danielle durch, indem ich Höflichkeit verstreute wie Konfetti.
»Hallo«, sagte sie. »Fahre ich mit Tante Casilia zurück oder was?«
»Du kommst mit mir, wenn du willst.«
»Einverstanden.«
Wir gingen mit allen anderen hinaus auf den Balkon, um uns das sechste Rennen anzuschauen, und danach sagten wir der Prinzessin korrekt auf Wiedersehen und verließen den Platz.
»Wohin gehen wir?« fragte Danielle.
»Spazieren, was trinken, was essen. Zuallererst gehen wir nach Ascot rein, wo ich den Wagen abgestellt habe, um nicht wieder auf dem Parkplatz tranchiert zu werden.«
»Du bist unglaublich«, sagte sie.
Ich holte meinen Koffer aus dem Umkleideraum, und wir gingen über die Billigplätze hinunter zum entlegensten Tor und von dort wieder sicher zu dem gemieteten Mercedes.
»Ich habe wohl überhaupt nicht daran gedacht, daß es noch mal passieren könnte«, sagte sie.
»Und beim nächsten Mal wäre keine rettende Prinzessin da.«
»Glaubst du ernstlich, die lauern dir auf?«
»Ich habe immer noch, was sie haben wollten.« Und außerdem hatte ich ihnen schwer auf den Schlips getreten. »Ich gehe einfach Wege, von denen sie nichts wissen, und hoffe das Beste.«
»Ja, aber«, sagte sie leise, »wie lange noch?«
»Ehm«, sagte ich, »sonntags arbeitet Joe wahrscheinlich nicht?«
»Nein. Erst wieder Montag, wie ich. An Wochenenden nicht. Was hat das mit der Frage zu tun, wie lange noch?« »Dienstag oder Mittwoch«, sagte ich.
»Du drückst dich nicht besonders klar aus.«
»Weil ich es nicht genau weiß.« Wir stiegen in das Auto, und ich ließ den Motor an. »Ich komme mir vor wie ein Jongleur. Ein halbes Dutzend Keulen in der Luft, und wahrscheinlich krachen sie alle auf einmal runter.«
»Und auf dich drauf?«
»Nicht«, sagte ich, »wenn ich es vermeiden kann.«
Ich fuhr nicht eben schnell nach Henley und hielt bei einer Telefonzelle, um mit Rose Quince zu sprechen, die aber außer Haus war. Ihr Anrufbeantworter bat mich, eine Nummer zu hinterlassen, die sie zurückrufen könne. Ich versuche es später noch mal, sagte ich.
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