«Tschüs«, sagte ich.
Sie blickte mich einen Moment an, als wäre sie verwirrt, dann erkannte sie mich: Calgary und Lenny Higgs lagen drei Tage zurück.
«Ach ja… auf Wiedersehen.«
Der Zug sollte rückwärts hinausfahren, um die Pferde und die Pfleger auf ein Abstellgleis zu bringen, von wo sie auf dem Straßenweg zur Rennbahn Exhibition Park fahren würden. Miss Brown fuhr anscheinend mit ihnen.
«Viel Glück bei den Rennen«, sagte ich.
«Ich wette nie.«
«Na ja… amüsieren Sie sich gut.«
Sie sah mich an, als wäre das ein unvorstellbarer Gedanke. Ich winkte ihr, der standhaften Hüterin, lief an der Lok vorbei, wo der Lokführer eine schattenhafte Gestalt hoch oben hinter seinem unmöglich kleinen Fenster war, und ging in den Bahnhof.
Die Lorrimores waren von Leuten mit Notizbüchern, Kameras und Abgabeterminen aufgehalten worden. Mercer begegnete ihnen höflich. Nell eiste die Familie los, komplimentierte sie zu ihrem Wagen und stieg schließlich in den langen Bus mit den
Besitzern. Ich wartete, bis alle fort waren, dann nahm ich ein Taxi, stieg im Hyatt ab und telefonierte nach England.
Der Brigadier war nicht zu Hause in Newmarket. Ich könnte es in seinem Club in London versuchen, sagte eine Stimme, die mir auch die vertraute Nummer durchgab, und ich wählte die Bar des Hobbs Sandwich an. Zu meiner Erleichterung wurde mir mitgeteilt, daß der Brigadier dort soeben seinen ersten wohlverdünnten abendlichen Scotch in Empfang nahm.
«Tor!«sagte er.»Wo sind Sie?«
«Vancouver. «Ich konnte das Klirren der Gläser und das Stimmengemurmel im Hintergrund hören. Ich sah die dunkle Eichentäfelung vor mir, die Porträts der Herren mit den Backenbärten, dicken Schulterpolstern und kleinen Mützen, und all das schien zeitlich, nicht nur räumlich, weit entfernt zu sein.
«Hm«, sagte ich.»Kann ich Sie noch mal anrufen, wenn Sie allein sind? Das Ganze wird ein bißchen dauern. Aber, na ja, es sollte bald sein.«
«Dringend?«
«Ziemlich.«
«Bleiben Sie dran. Ich gehe hoch in mein Zimmer und lasse den Anruf rauflegen. Hängen Sie nicht ein.«
Ich hörte es ein paarmal klicken und wartete, bis seine Stimme wieder ruhig, ohne Hintergrundgeräusch durch die Leitung kam.
«Gut. Was ist passiert?«
Ich redete, wie mir schien, sehr lange. Er markierte meine Pausen mit Brummtönen, um mich wissen zu lassen, daß er noch zuhörte, und zum Schluß sagte er:»Sie verlangen aber gar nicht viel, wie? Bloß Wunder.«
«Morgen nachmittag um drei geht ein Air-Canada-Flug von Heathrow«, sagte ich,»und sie hätten den ganzen Tag und den ganzen Dienstag, um die Informationen zu beschaffen, denn wenn es in Vancouver am Dienstagmorgen elf schlägt, ist es in
England sieben Uhr abends. Und sie könnten es rüberfaxen.«
«Immer vorausgesetzt«, meinte er trocken,»daß der Jockey Club in Exhibition Park ein Faxgerät hat.«
«Das prüfe ich. Wenn keins da ist, kaufe ich eins.«
«Was hält Bill Baudelaire von all dem?«fragte er.
«Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Ich brauchte erst Ihre Reaktion.«
«Welche Telefonnummer haben Sie?«fragte er.»Ich überlege es mir und rufe Sie in zehn Minuten zurück.«
«Erst denken, dann handeln?«
«Nie verkehrt, wenn die Zeit reicht.«
Er überlegte zweimal zehn Minuten, bis ich kribblig wurde. Als das Telefon klingelte, holte ich tief Luft und meldete mich.
«Wir werden es versuchen«, sagte er,»sofern Bill Baudelaire mitzieht, versteht sich. Sollten wir die Information in der verfügbaren Zeit nicht bekommen, müssen wir’s vielleicht abblasen.«
«In Ordnung.«
«Davon abgesehen«, sagte er,»bravo.«
«Gute Stabsarbeit«, sagte ich.
Er lachte.»Für Schmus gibt es keine Beförderung.«
Ich freute mich darauf, mit Mrs. Baudelaire zu sprechen. Ich wählte ihre Nummer, und Bill kam an den Apparat.
«Hallo«, sagte ich überrascht.»Tor Kelsey hier. Wie geht’s Ihrer Mutter?«
Eine lange, schreckliche Stille trat ein.
«Sie ist krank«, sagte ich besorgt.
«Sie… ehm… sie ist heute am frühen Morgen… gestorben.«
«Oh… nein. «Das konnte nicht sein, dachte ich. Es konnte nicht wahr sein.»Ich habe gestern noch mit ihr gesprochen«, sagte ich.
«Wir wußten. sie wußte. daß es nur noch Wochen sein würden. Aber gestern abend kam eine Krise.«
Ich schwieg. Ich empfand ihren Verlust so, als wäre Tante Viv mir zurückgegeben und dann wieder entrissen worden. Ich hätte sie so gern kennengelernt.
«Tor?«sagte Bills Stimme.
Ich schluckte.»Ihre Mutter… war großartig.«
Er würde die unterdrückten Tränen in meiner Stimme hören, dachte ich. Er würde mich für verrückt halten.
«Falls es Ihnen etwas nützt«, sagte er,»die gleiche Meinung hatte sie von Ihnen. Sie haben ihr die letzten Tage verschönt. Sie wollte noch erleben, wie es ausgeht. Mit das letzte, was sie sagte, war… >Ich will nicht gehen, bevor die Geschichte zu Ende ist. Ich möchte den unsichtbaren jungen Mann sehen…< Dabei ließen ihre Kräfte… immer mehr nach.«
Geh nicht so sanft in diese gute Nacht, Das Alter sollte lodern, rasen, wenn der Tag sich senkt;
So wüte, wüte doch, daß man das Licht dir umgebracht …
«Tor?«sagte Bill.
«Es tut mir sehr leid«, sagte ich, schon beherrschter.»Sehr leid.«
«Danke.«
«Ich nehme nicht an. «sagte ich und hielt hilflos inne.
«Sie irren sich«, erwiderte er sofort.»Ich habe hier auf Ihren Anruf gewartet. Wir würden sie enttäuschen, wenn wir nicht voll weitermachten. Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken. Das letzte, was sie gewollt hätte, wäre, daß wir aufgeben. Zur Sache also: Wir haben ein Telex von Filmer erhalten, in dem er behauptet, der alleinige Besitzer von Laurentide Ice zu sein, aber wir werden ihm mitteilen, daß die Rennsportkommission von Ontario seine Besitzerlizenz für ungültig erklärt. Und daß er zu dem Präsidentenlunch in Exhibition Park nicht zugelassen wird.«
«Ich, ehm… würde es gern anders machen«, sagte ich.
«Wie meinen Sie das?«
Ich seufzte tief und redete auch mit ihm lange Zeit. Er hörte zu wie der Brigadier, mit einem gelegentlichen kehligen Brummen, und zum Schluß sagte er bloß:»Ich wünschte, sie hätte das alles noch hören können.«
«Ja, das wünschte ich auch.«
«Also«, er hielt inne.»Ich gebe meine Zustimmung. Das eigentliche Problem ist die Zeit.«
«M-hm.«
«Am besten sprechen Sie selbst mit Mercer Lorrimore.«
«Aber.«
«Kein Aber. Sie sind doch da. Ich kann erst morgen am späten Nachmittag kommen, wenn ich hier alles nach Ihren Wünschen erledigen soll. Sprechen Sie unverzüglich mit Mercer — Sie wollen doch nicht, daß er nach Toronto zurückkehrt.«
Ich sagte widerstrebend:»Na schön. «Aber ich hatte gewußt, daß es auf mich zukam.
«Gut. Machen Sie alle nötige Autorität geltend. Val und ich stehen hinter Ihnen.«
«Danke… vielen Dank.«
«Bis morgen«, sagte er.
Ich legte langsam den Hörer auf. Der Tod konnte ungeheuer unfair sein, das wußte man, aber Wut, Wut… Ich empfand ebensoviel Zorn wie Trauer um sie. Geh nicht so sanft in diese gute Nacht… wenn ich mich recht erinnerte, waren das wohl die letzten Worte, die sie zu mir gesagt hatte:»Gute Nacht. «Gute Nacht, liebe, liebe Mrs. Baudelaire. Gehen Sie sanft. Gehen Sie ganz sanft in diese gute Nacht.
Ich saß eine Zeitlang kraftlos da, spürte den Schlafmangel, spürte die nagenden Schmerzen, spürte die Verzagtheit, der ihr Tod die Tür geöffnet hatte; fühlte mich den kommenden beiden Tagen nicht gewachsen, obwohl ich ihren Ablauf selbst geplant hatte.
Nach einer Ewigkeit raffte ich mich zusammen, rief im Four Seasons Hotel an und verlangte Mercer, sprach aber unversehens mit Nell.
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