Der höfliche Diener des Herzogs war am Apparat.
«Nein, Mr. Shore, es tut mir sehr leid, aber Seine Gnaden sind vor einer halben Stunde in Richtung Warwick abgefahren.«
«Mit dem kleinen Matthew?«
«Ja, Sir.«
«Wissen Sie, ob er vorhat, das Büro des Versicherungsvereins aufzusuchen, bevor er zur Rennbahn geht?«
«Ich glaube wohl, Sir. Ja.«
In immer größerer Sorge legte ich auf. Rupert Tyder-mans Tod machte aus dem Ganzen ein Spiel in einer anderen Klasse. Vorher, bei den Anschlägen auf die Flugzeuge, hatten keine Menschenleben auf dem Spiel gestanden; es war zwar eiskalte Berechnung am Werk gewesen, aber eindeutig die Absicht, nicht zu töten. Wenn Carthy-Todd jetzt jedoch beschlossen hatte, reinen Tisch zu machen. Wenn Tydermans Schnitzer mit Nancys Flugzeug, der zu seiner Entlarvung geführt hatte, zugleich seinen Tod zur Folge gehabt hatte… Wenn Carthy-Todd verhindert hatte, daß Tyderman gegen ihn aussagen konnte… Dann würde er, könnte er möglicherweise auch den einfältigen, ehrlichen, redseligen Herzog umbringen.
Er würde es nicht tun, dachte ich kalt. Er konnte es nicht tun.
Ich glaubte es mir selber nicht.
Die Whiteknights hatten keinen Grund, sich über die Geschwindigkeit zu beklagen, mit der ich sie nach Coventry flog, aber sie stimmten nur widerwillig zu, als ich sie bat, mich im Taxi zu den Rennen mitzunehmen. Ich trennte mich am Haupteingang von ihnen und ging zu Fuß ein Stück zurück, stadtwärts, auf der Suche nach dem Büro des Versicherungsfonds. Wie der Herzog gesagt hatte, lag es nicht weit von der Rennbahn entfernt: weniger als vierhundert Meter.
Es befand sich in der ersten Etage eines kleinen, mäßig gepflegten Stadthauses ohne Vorgarten. Das Erdgeschoß schien unbewohnt zu sein, aber die Haustür stand offen, und ein Schild im Hausflur verkündete:»Versicherungsfonds für Rennbesucher, 1. Stock«.
Ich ging hinauf. Auf dem ersten Treppenabsatz gab es eine Toilette, ein Vorzimmer und eine Tür mit einem Zylinderschloß von Yale und einem Klopfer in Form eines Pferdekopfes. Ich betätigte den Türklopfer einige Male; dann wurde die Tür jäh geöffnet.»Hallo«, sagte der kleine Matthew und hielt die Tür weit auf.»Mein Onkel meinte gerade, Sie würden uns noch verpassen. Wir gehen jetzt zu den Rennen.«
«Kommen Sie herein zu uns, mein lieber Junge«, erklang die Stimme des Herzogs in dem Raum.
Ich trat in das Büro ein. Auf den ersten Blick wirkte es elegant; pflaumenblauer Teppichboden, aber von minderer Qualität, zwei Sessel von wuchtiger Optik, aber mit billigen Schaumstoffpolstern, zwei schulterhohe Aktenschränke aus Metall und ein moderner Resopalschreibtisch. Der Eindruck eines soliden, nüchternen, wohleingeführten Geschäftes ergab sich ausschließlich aus den guten Proportionen des mit Erkerfenster versehenen Raumes, dem Stuckwerk an der Decke aus dem 19. Jahrhundert, den Holzschnitzereien, dem Marmorsims des schönen Kamins und einigen dunklen, goldgerahmten Ölbildern an den Wänden. Das Büro war geschickt ausgesucht, es sollte überzeugen, den Eindruck von Sicherheit vermitteln, gefallen. Und da die Kunden einer Versicherungsgesellschaft so gut wie nie die Büroräume der Gesellschaft aufsuchen, konnte dieses Büro nur dem einen Zweck dienen, den Herzog selbst zu überzeugen, zu beruhigen und ihm zu gefallen.
Der Herzog machte mich mit dem Mann bekannt, der hinter dem Schreibtisch gesessen hatte und sich nun erhob.
«Charles Carthy-Todd… Matthew Shore.«
Ich schüttelte dem Mann die Hand. Er hatte mich vorher schon gesehen und ich ihn. Keiner von uns ließ das auch nur ansatzweise erkennen. Ich hoffte, er hatte nicht bei mir das gleiche winzige Nachlassen der Anspannung bemerkt, das mir an ihm auffiel. Die Spannung, unter der ich stand, hatte sich keinen Deut vermindert.
Er stellte genau das dar, was der Herzog angekündigt hatte: einen Mann von sicherem Auftreten mit wohlklingender Stimme, jeder Zoll ein Gentleman mit guter Erziehung. Und all das mußte er auch darstellen, um den Herzog einzufangen. Die silbergerahmten Fotografien, die der Herzog erwähnt hatte, dienten dem gleichen Zweck.
Er hatte dunkles Haar mit ersten Spuren von Grau, einen dichten, kleinen Schnurrbart, rötlichbraune, leicht glänzende Haut und eine schwere schwarze Hornbrille als Sehhilfe für seine graublauen Augen.
Der Herzog saß behaglich in einem Sessel am Erkerfenster, sein majestätisches Haupt war vom Tageslicht dahinter mit einem Lichtkranz umgeben. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Haltung der Hände war entspannt, er rauchte eine Zigarre. Aus seiner ganzen Stimmung, die angenehmes Wohlgefühl vermittelte, war leicht der Stolz zu erkennen, mit dem ihn dieser schöne Wohltätigkeitsfonds erfüllte. Ich wünschte ihm von Herzen, daß ihm kein böses Erwachen bevorstand.
Charles Carthy-Todd setzte sich wieder und bot dem kleinen Matthew aus einer halbleeren, runden, rotgoldenen Dose ein Stück schokoladenüberzogene Orangenschale an
— dabei war er durch meine Ankunft unterbrochen worden. Matthew nahm eins, bedankte sich, aß es und beobachtete Carthy-Todd mit besorgter Zurückhaltung. Genau wie der Herzog vertraute ich dem Instinkt des kleinen Matthew. Und allzu offensichtlich war dessen Signal inzwischen auf Gelb, wenn nicht auf Rot umgesprungen. Ich hoffte um unser aller willen, daß ihm seine gute Erziehung half, nichts davon verlauten zu lassen.
«Geben Sie Matthew ein Antragsformular, Charles«, sagte der Herzog zufrieden.»Deswegen ist er gekommen, wissen Sie, um der Versicherung beizutreten.«
Carthy-Todd erhob sich gehorsam, ging hinüber zu den Aktenschränken, öffnete eine der oberen Schubladen und entnahm ihr zwei verschiedene Blätter Papier. Das eine war, wie sich herausstellte, das Antragsformular und das andere eine reich verzierte Versicherungsurkunde. Ich füllte den höchst einfach gehaltenen Antrag aus, während Carthy-Todd meinen Namen und eine Versicherungsnummer auf die Urkunde schrieb; dann gab ich ihm einen Fünfer — das bedeutete: nur noch Cornflakes bis zum nächsten Zahltag —, und das Geschäft war abgeschlossen.
«Sie müssen jetzt gut auf sich achtgeben, Matt«, scherzte der Herzog, und ich lächelte und sagte, ja, das wolle ich.
Der Herzog sah auf seine Uhr.»Gütiger Gott!«Er erhob sich.»Also los jetzt, alle miteinander. Zeit, daß wir zur Rennbahn gehen. Und keine Ausreden mehr, Charles, ich bestehe darauf, daß Sie mit mir essen. «An mich gewandt erklärte er:»Charles geht nur sehr selten zu den Rennen. Er gibt nicht viel darum, verstehen Sie? Aber da die Bahn hier direkt nebenan ist.«
Carthy-Todds Abneigung gegen Besuche auf der Rennbahn fand ich vollkommen verständlich. Er wollte ungesehen bleiben, anonym, unerkennbar, so wie er es die ganze Zeit gewesen war. Charles würde sich in der Tat die Veranstaltungen, an denen er teilnahm, sehr sorgfältig aussuchen. Er würde niemals, stellte ich mir vor, auftauchen, ohne sich vorher beim Herzog vergewissert zu haben, daß er auch kam.
Wir gingen zurück zur Rennbahn, der Herzog und Carthy-Todd voraus, der kleine Matthew und ich hinterher. Der kleine Matthew ließ den Abstand etwas größer werden und sagte dann leise zu mir:»Also, Matt, ist Ihnen an Mr. Carthy-Todd etwas aufgefallen?«
Ich beobachtete seinen Gesichtsausdruck. Halb besorgt, halb verwirrt. Er suchte Rückhalt.
«Was ist dir denn aufgefallen?«»Ich habe noch nie zuvor jemanden mit solchen Augen gesehen.«
Kinder sind unglaublich aufmerksam. Matthew hatte sofort bemerkt, worauf ich mit Vorbedacht geachtet hatte.
«Ich würde es ihm gegenüber nicht erwähnen. Er hört es vielleicht nicht gern.«
«Wahrscheinlich nicht. «Er stockte.»Ich mag ihn nicht übermäßig.«
«Kann ich verstehen.«
«Und Sie?«
«Auch nicht«, sagte ich.
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