Sie sah mir zu, wie ich die Vase in feuerfesten Faserstoff einschlug und sie in den Kühlofen stellte.
«Ich fürchte«, sagte die wandlungsfähige Zivilfahnderin Dodd,»die Kassette können Sie abschreiben.«
Ich sagte ihr, daß sie ein Geheimnis enthielt.
«Was für ein Geheimnis?«
«Das ist es ja eben, ich weiß es nicht. Martin Stukely sagte seiner Frau, er wolle mir ein Geheimnis auf Video zur Aufbewahrung geben, falls er — man könnte fast darüber lachen — tödlich mit dem Wagen verunglückt oder so etwas.«
«Mit einem Hindernispferd zum Beispiel?«
«Damit hat er nicht gerechnet.«
Catherine Dodds kriminalistischer Verstand kam schnell auf die beiden zentralen Punkte, die ich mir widerstrebend klargemacht hatte, nachdem Norman Osprey mit seinen Elviskoteletten in meinen Gesichtskreis getreten war. Erstens, jemand kannte Martins Geheimnis, und zweitens, jemand — aber nicht unbedingt derselbe — dachte vielleicht, auch mir sei das Geheimnis bekannt. Es konnte sein, daß jemand annahm, ich hätte mir das Video am Abend nach Martins Tod angesehen und es sicherheitshalber gelöscht.
Ich hatte zwar keinen Videorecorder im Laden, aber im Dragon auf der anderen Straßenseite gab es einen für die Gäste, und der Drachen warb damit auf hundertfach verteilten Prospekten.
«Hätte ich einen Videorecorder zur Hand gehabt«, sagte ich,»dann hätte ich mir das Band wohl wirklich gegen Abend angesehen, und im Zweifelsfall hätte ich es vielleicht auch gelöscht.«
«Das wäre aber entgegen dem Wunsch Ihres Freundes Martin gewesen.«
Nach einem kurzen Schweigen sagte ich:»Wenn er genau gewußt hätte, was er will, hätte er nicht mit Videos herumgespielt, sondern mir das große Geheimnis einfach verraten. «Ich brach ab.»Hätte, wäre, wenn. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
«Geht nicht. Tut mir leid. Ich bin im Dienst. «Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln.»Ich komme später noch mal. Ach ja! Ehe ich’s vergesse. «Sie zog den unverzichtbaren Notizblock aus ihrer Jacke hervor.»Wie heißen denn Ihre Gehilfen?«
«Pamela Jane Evans, John Irish und John Hickory. Statt John und John nennen wir die Männer bei ihren Nachnamen, das macht’s einfacher.«
«Wer ist der ältere?«
«Irish. Er hat Hickory und auch Pamela Jane rund zehn Jahre voraus.«
«Und wie lange arbeiten sie schon bei Ihnen?«
«Pamela Jane seit ungefähr einem Jahr, Irish und Hickory seit vierzehn, fünfzehn Monaten. Sie können mir glauben, die sind alle okay.«
«Ich glaube Ihnen. Das ist nur für die Akten. Deswegen, ehm… bin ich eigentlich vorbeigekommen.«
Ich sah ihr ins Gesicht. Sie wurde beinah rot.
«Es ist besser, ich gehe jetzt«, sagte sie.
Mit Bedauern brachte ich sie zur Tür, wo sie sich verabschiedete, da sie auf der Straße nicht direkt mit mir gesehen werden wollte. Sie schloß sich vielmehr den Touristen an, die gerade lautstark von einem dicken Mann hinausgepeitscht wurden, der fand, sie hätten den Nachmittag sinnlos vergeudet, und sich auf dem ganzen Weg zum warmen Reisebus der Gruppe darüber beklagte. Sein breiter Rük-ken versperrte mir den Blick auf die entschwindende Kriminalkommissarin Dodd, und das störte mich mehr, als ich gedacht hätte.
An Bon-Bons Telefon erfuhr ich vom Drachen persönlich, daß Lloyd Baxter es für angebracht gehalten hatte, zum (wie er es nannte)»letzten Ritt seines Jockeys «von Nordengland herunterzukommen, daß er aber nicht bei Priam Jones wohnen wollte, da er die Absicht hatte, sich von dem Trainer zu trennen. Der Drachen lachte leise und setzte schelmisch hinzu:»Du hättest auch nicht unbedingt zu Bon-Bon Stukely gehen müssen, wenn du nach dem Einbruch nicht bei dir zu Hause schlafen wolltest. Du konntest doch zu mir kommen, Liebster.«
«Hat sich das rumgesprochen?«meinte ich trocken.
«Weißt du nicht, daß man in dieser Stadt immer von dir spricht?«
Ich wußte es schon, aber so aufregend fand ich mich gar nicht.
Ebenfalls am Abend vor Martins Beerdigung rief Priam Jones bei Bon-Bon an, bekam aber mich an den Apparat.
Immer wenn ich dort war, half ich die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Auch Marigold, Worthington und sogar die Kinder übten sich mit viel Erfolg in Danksagung und Feingefühl. Martin, dachte ich bei mir, hätte sicher gegrinst, wenn er die plötzlich und unerwartet verbesserten Umgangsformen in seiner Familie erlebt hätte.
Priam gebrauchte große Worte, aber wenn ich es recht verstand, bot er seine Hilfe bei der Durchführung der Trauerfeier an. Im Gedanken an seine spontan vergossenen Tränen setzte ich ihn auf die Liste und fragte ihn, ob Martin, bevor er mich am Freitag morgen zu Hause abholte, zufällig etwas von einer Videokassette gesagt habe, die er in Cheltenham erwartete.
«Das haben Sie mich am Tag nach seinem Tod doch schon gefragt«, entgegnete Priam gereizt.»Die Antwort ist immer noch ja. Er sagte, er werde die Rennbahn erst verlassen, wenn er ein Päckchen in Empfang genommen habe, das Sie bekommen sollten. Und das hab ich Ihnen doch gegeben, oder? Sie hatten es im Auto liegenlassen, in Ihrem Regenmantel, und den habe ich Ihnen in Broadway vorbeigebracht… Also dann bis morgen, Gerard. Grüßen Sie Bon-Bon von mir.«
Ebenso am Abend vor Martins Beerdigung ging Eddie Payne in die katholische Kirche seiner Gemeinde, beichtete seine alten und neuen Sünden und bat um Vergebung und Absolution. Das erzählte er mir stolz, als ich an BonBons Stelle seine Kondolenz entgegennahm. Er habe alles versucht, um jemand zu finden, der auf der Rennbahn für ihn einsprang, aber leider vergebens, daher könne er an der Beerdigung nicht teilnehmen, und das bedaure er zutiefst, sei er doch sechs oder sieben Jahre lang Martins Jockeydiener gewesen. Wenn mich mein ungläubiges Ohr nicht trog, hatte Eddie sich vor dem Griff zum Telefon Mut angetrunken, und außerdem hatte er sich gleich schon wieder versündigt, denn es war klar, daß er für diese Beerdigung leichter eine Vertretung bekommen hätte als für die seiner eigenen Großmutter.
Am gleichen Abend (davon erfuhr ich erst später) setzte Ed Paynes Tochter Rose einem Grüppchen brutaler Schläger auseinander, wie sie Gerard Logan dazu bekommen konnten, ihnen das Geheimnis zu verraten, das ihm in Cheltenham anvertraut worden war.
An ersten Donnerstag im Januar, dem sechsten Tag des neuen Jahrtausends, trugen Priam Jones und ich zusammen mit vier erstklassigen Hindernisjockeys Martin in seinem Sarg zunächst in die Friedhofskapelle und schließlich hinaus zu seinem Grab.
Die Sonne schien auf eisgraue Bäume. Bon-Bon sah ätherisch aus, Marigold war halbwegs nüchtern, Worthington nahm seine Chauffeursmütze ab und neigte ehrerbietig das kahle Haupt, die vier Kinder klopften mit den Fingern an den Sarg, als könnten sie den Vater im Innern auferwecken, Lloyd Baxter trug eine kurze, ansprechende Lobrede vor, und die gesamte Rennwelt, von dem Vorsitzenden des Jockey Clubs bis zu den Männern, die die Rasenstücke ersetzten, alle zwängten sich in die Bänke und drängten sich draußen auf den winterkalten Kirchhof, standen auf den uralten bemoosten Steinplatten. Martin hatte hohes Ansehen genossen, und nun wurde ihm Respekt gezollt.
Der Leichenwagen und die schweren Limousinen waren eine Meile aus der Stadt heraus zu dem neuen Friedhof am Hang gefahren. Dort, zwischen Bergen von Blumen, weinte Bon-Bon, als der Mann, mit dem sie tagtäglich gezankt hatte, in die stille, alles umfangende Erde hinabgelassen wurde, und ich, für den es nach meiner Mutter der zweite große Abschied innerhalb eines Monats war, überzeugte mich gewissenhaft davon, daß der Gastroservice genug
Grog mitgebracht hatte und daß der Kirchenchor sein Geld bekam, und sorgte auch sonst dafür, daß das teure Räderwerk des Todes rund lief.
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