Pamela Jane, blaß, zapplig, eifrig, steckendürr, aber nicht unhübsch, bestand darauf, mich persönlich zu BonBon zu fahren, setzte mich an der Einfahrt ab, winkte kurz und eilte auch schon wieder zurück zum Laden, da sie Irish dort allein gelassen hatte.
Bei ihrem Haus, einem Juwel aus dem achtzehnten Jahrhundert, das sie mit Marigolds Unterstützung gekauft hatten, waren Martin und Bon-Bon sich ausnahmsweise einig gewesen. Ich bewunderte es jedesmal von neuem.
Ein kleiner Lieferwagen stand auf dem Kies, dunkelblau mit einem aufgedruckten Firmennamen in Gelb: Thompson Electronics. Wohl weil ich selbst gearbeitet hatte, fiel mir nicht gleich ein, daß der 1. Januar ein gesetzlicher Feiertag war — mit Sicherheit nicht die Zeit für Fernsehreparaturen.
Chaos ist ein zu schwaches Wort für das, was ich in Martins Haus vorfand. Es fing damit an, daß die Haustür angelehnt war und ich nur daran zu tippen brauchte. Normalerweise war es die Küchentür, die offenstand, um Freunden und Lieferanten Einlaß zu gewähren.
Mit einem etwas unguten Gefühl trat ich durch die massive, geschnitzte Haustür und rief, bekam aber keine Antwort, und nach ein paar Schritten sah ich, was es mit meinem Unbehagen auf sich hatte.
Bon-Bons Mutter Marigold, das plüschige graue Haar und die wallenden Purpurgewänder wie üblich in Unordnung, lag bewußtlos auf der Treppe. Worthington, ihr eigenwilliger Chauffeur, lag wie ein betäubter mittelalterlicher Schloßhund zu ihren Füßen hingestreckt.
Die vier Kinder waren nicht zu sehen und unheimlicherweise nicht zu hören, und auch hinter der geschlossenen Tür von Martins Zimmer, seiner» Bude«, war es still.
Ich stieß sie ohne Zögern auf, und da lag Bon-Bon der Länge nach auf dem Parkettboden. Wie schon bei Lloyd Baxter kniete ich mich hin und faßte ihr an den Hals, um den Puls zu fühlen, aber diesmal voller Angst; und bei dem kräftigen Babum, Babum war ich um so erleichterter. Da ich mich auf Bon-Bon konzentrierte, sah ich zu spät, aus dem Augenwinkel, die Bewegung hinter meiner rechten Schulter… eine dunkle Gestalt, die aus ihrem Versteck hinter der Tür hervorstürzte.
Ich schoß halb in die Höhe, kam aber nicht schnell genug zum Stehen. Für einen Sekundenbruchteil erblickte ich einen kleinen Gasbehälter — etwa so groß wie ein Haushaltsfeuerlöscher. Nur war der Behälter nicht rot. Er war orange. Und er traf mich am Kopf. Martins Zimmer wurde grau, schwarzgrau, dann schwarz. Ein tiefer, leerer Brunnenschacht.
Umringt von Zuschauern kam ich langsam wieder zu mir. Verschwommen sah ich ein Augenpaar neben dem anderen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder was vorging. Es mußte aber etwas Schlimmes sein, denn die Augen der Kinder waren schreckgeweitet.
Ich lag auf dem Rücken. Nach und nach füllten sich die weißen Stellen meiner Erinnerung mit dem Bild eines orangen Gasbehälters in den Händen einer Gestalt mit Augenschlitzen in einer schwarzen Kapuzenmaske.
Als meine Wahrnehmung klarer wurde, konzentrierte ich mich auf Bon-Bons Gesicht und versuchte aufzustehen.
Bon-Bon sagte bei diesen Anzeichen des Wiedererstar-kens meiner Lebensgeister erleichtert:»Gott sei Dank geht’s dir gut. Wir sind alle mit Gas betäubt worden und übergeben uns, seit wir wieder auf den Beinen sind. Sei so gut und schlepp dich aufs Klo, mein Lieber. Kotz nicht hier hin.«
Der Kopf, nicht der Magen machte mir zu schaffen. Mein Kopf war mit dem Gasbehälter, nicht mit dem Inhalt traktiert worden. Es war mir zu anstrengend, darauf hinzuweisen.
Worthington sah ungeachtet seiner Muskeln, die er durch regelmäßiges Training in einer Boxhalle gewissenhaft in Form hielt, blaß, zittrig und überhaupt nicht gut aus. Er hielt jedoch die beiden jüngsten Kinder an der Hand, um ihnen, so gut es ging, Trost und ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Für sie war er ein Alleskönner, und da hatten sie beinah recht.
Bon-Bon hatte mir einmal gesagt, was ihre Mutter an Worthington am meisten schätze, sei sein Draht zu den Buchmachern, denn Marigold selbst laufe ungern zwischen den Leuten herum, die da ihre Quoten ausriefen, und Worthington hole stets das Beste für sie heraus. Ein vielseitiger und hoffnungslos guter Mensch, Worthington, wenn es auch nicht immer so aussah.
Nur Marigold fehlte in dem Krankenaufgebot. Ich fragte nach ihr, und Daniel, Martins Ältester, sagte, sie sei betrunken.»Sie liegt auf der Treppe und schnarcht«, erläuterte die ältere der beiden Töchter. Die Kinder des Jahres 2000 redeten Klartext.
Während ich mich langsam vom Parkett aufraffte, meinte Bon-Bon verärgert, ihr Arzt habe erklärt, er mache keine Hausbesuche mehr, auch nicht bei Patienten, die von einem Sterbefall betroffen seien. Viel Ruhe und viel trinken, dann werde alles gut. Wasser, hatte er gesagt.
«Gin«, versetzte eines der Kinder trocken.
Ich fand es unerhört, daß Bon-Bons Arzt es nicht für nötig hielt, nach ihnen zu sehen, und rief selbst bei ihm an. Gewandt lenkte er ein und versprach» vorbeizukommen«, auch wenn es Neujahr sei. Er habe Mrs. Stukely nicht ganz verstanden, entschuldigte er sich. Vor allem nicht, daß sie überfallen worden sei. Sie habe ein wenig unzusammenhängend geredet. Hatten wir die Polizei verständigt?
Es schien auf der Hand zu liegen, daß die Massenbetäubung aus räuberischen Motiven erfolgt war. Drei Fernsehgeräte mit eingebautem Video fehlten. Bon-Bon hatte in ihrem Zorn nachgesehen.
Ebenso verschwunden war der separate Videorecorder, auf dem sie sich Martin angeschaut hatte, zusammen mit zig Kassetten. Außerdem fehlten zwei Laptop-Computer samt Druckern und zahlreichen Disketten, doch Worthington sagte voraus, die Polizei werde kaum versprechen können, daß sich davon etwas wiederfand, da Martin die Seriennummer der Geräte nirgends notiert hatte.
Bon-Bon begann in der verfahrenen Situation still vor sich hin zu weinen, und so übernahm der wieder zu Kräf-ten kommende Worthington den Anruf bei der überlasteten nächsten Polizeidienststelle. Meine Kommissarin Catherine Dodd, so erfuhr er, gehörte zu einer anderen Abteilung. Aber die Kripo würde demnächst bei den Stukelys erscheinen.
Der Lieferwagen von Thompson Electronics war natürlich nicht mehr da.
Marigold schnarchte weiter auf der Treppe.
Worthington machte zur Beruhigung Butterbrote mit Honig und Banane für die Kinder.
Mitgenommen setzte ich mich in den schwarzen Ledersessel in Martins Zimmer, während Bon-Bon gegenüber auf dem Sofa ihren vielschichtigen Kummer in Papiertüchern erstickte und dann nur lückenhaft auf die Frage antwortete, die ich ihr wiederholt stellte, nämlich:»Was war auf dem Band, das Martin mir nach dem Rennen geben wollte, und wo kam es her? Das heißt, wer hat es Martin in Cheltenham gegeben?«
Bon-Bon musterte mich mit feuchten Augen und putzte sich die Nase.»Ich weiß, daß Martin dir gestern etwas sagen wollte, aber er hatte ja noch die anderen im Wagen, und weil Priam nicht hören sollte, was er mit dir bespricht, hatte er vor, dich als letzten nach Hause zu bringen, nach den anderen, obwohl du am nächsten an der Rennbahn wohnst.«
Selbst im Unglück war sie porzellanhaft hübsch, ihre vollen Rundungen kamen gut zur Geltung in dem schwarzen Wollkleid, dessen Schnitt eher dazu gedacht war, einen lebenden Ehemann zu erfreuen als trauernde Nachbarn.
«Er hat dir vertraut«, meinte sie schließlich.
«M-hm. «Etwas anderes hätte mich auch sehr gewundert.
«Nein, du verstehst nicht. «Bon-Bon zögerte und sprach dann langsam weiter.»Er kannte ein Geheimnis. Was für eins, hat er mir nicht gesagt. Er meinte, das würde mich nur aufregen. Aber er wollte jemanden einweihen. Darüber haben wir gesprochen, und ich war mit ihm einig, daß du derjenige sein solltest. Du solltest seine Sicherheit sein. Für alle Fälle. Ach herrje… Er hat das, was du erfahren solltest, auf ein gutes altes Videoband aufnehmen lassen, nicht auf CDROM oder auf Diskette, und zwar deshalb, weil es seinem Informanten so lieber war, glaube ich. Ich bin mir nicht sicher. Und außerdem meinte er, das sei auch leichter zu handhaben. Besser Video als PC, denn du weißt ja, mein lieber Gerard, daß ich mit Computern nicht so zurechtkomme. Die Kinder lachen mich schon aus. Aber wie man eine Videokassette abspielt, weiß ich. Martin wollte, daß ich diese Möglichkeit habe, falls er stirbt, wobei er natürlich — natürlich nicht ernsthaft an seinen Tod geglaubt hat.«
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