Red Millbrook hatte seinen Wagen in der Londoner Straße draußen vor seinem Elternhaus stehen und fuhr von dort aus jeden Tag dorthin, wo er gerade zum Rennen eingeteilt war. Normalerweise brach er Richtung Norden auf, über eine Straße, die ihn durch hohe schwarze Geländer in die rasenbedeckte Weite des Hyde Parks führte. Dort gab es Fußwege und immergrüne Büsche und Bänke für die Rast ermüdeter Spaziergänger. Daneben fanden sich dort mehrere Verkehrsampeln, die einerseits den Fußgängern die Überquerung der Straße erleichtern und es andererseits dem Verkehr ermöglichen sollten, einem komplizierten Muster folgend nach rechts abzubiegen. Eine der Ampeln sprang fast immer auf Rot, sobald Red Millbrook sich näherte. Geduldig wartete er dann auf Grün, während sein Radio den Wagen mit Musik erfüllte.
An einem Freitagmorgen im Dezember trat, während Red vor sich hinsummend an der Ampel wartete, ein Mann an seinen stehenden Wagen heran und klopfte an der Beifahrerseite ans Fenster. Er war gekleidet wie ein Tourist und hatte einen großen Stadtplan bei sich, auf den er mit hoffnungsvoller Gebärde aufmerksam machte.
Red Millbrook drückte auf einen Knopf und öffnete zuvorkommend das elektrisch bediente Fenster. Der Tourist beugte sich mit dem Plan in Händen höflich in den Wagen.
«Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Tourist,»wie komme ich am besten zum Buckingham Palace, bitte?«
Er hatte einen ausländischen Akzent, ging es Red Mill-brook flüchtig durch den Kopf. Ein Franzose vielleicht. Der Jockey drehte sich zum Fenster um und beugte den Kopf über den Stadtplan.
«Sie gehen…«:, sagte er.
Emile Jacques Guirlande erschoß ihn.
Um die Wahrheit zu sagen, Emile Jacques genoß das Töten. Es erfüllte ihn mit Stolz, in der Lage zu sein, den Tod so sauber und schnell herbeizuführen, daß sein Opfer nicht einmal den Verdacht schöpfte, es könne angebracht sein, sich zu fürchten. Emile Jacques fand, daß er seinen eigenen hohen Ansprüchen untreu würde, falls er jemals Augen sich in verzweifelter Angst weiten sehen oder auch nur die ersten Silben eines jämmerlichen Flehens hören würde. So mancher bezahlte Mörder mochte Gefallen finden am Entsetzen seiner Opfer: Emile Jacques war, für einen Mörder, ein gütiger Mensch.
Red Millbrook hatte ausschließlich auf den Stadtplan gesehen, den Emile Jacques ihm mit der linken Hand halb geöffnet hingehalten hatte. Er hatte keine Zeit gehabt, die neun Millimeter Browning zu sehen, wie sie mit ihrem wirksamen, langen Schalldämpfer anmutig unter dem Stadtplan hervorglitt. Emiles rechte Hand war, wenn er eine Waffe hielt, von einer Schnelligkeit und Eleganz, wie kein Magier sie hätte übertreffen können.
Die glutheiße Kugel zerstörte Red Millbrooks Gehirn binnen eines Augenblicks. Er fühlte nichts, wußte nichts, gab keinen Laut von sich. Das schwache» Plop «der Browning verlor sich im Rhythmus der Radiomusik.
Ohne zu zögern nahm Emile Jacques seinen Stadtplan wieder an sich, und die Pistole verschwand darin. Er machte eine Gebärde des Dankes, für den Fall, daß sie Zuschauer hatten, und ging beiläufig davon.
Er schritt ohne Hast einen Fußweg entlang und umrundete ein Gebüsch, und er war schon ein ganzes Stück entfernt, als er hinter sich lautstarkes Hupen hörte. Die Ampel war, wie er wußte, auf Grün gesprungen, aber ein Auto bewegte sich nicht von der Stelle und behinderte den Verkehr. Als schließlich erzürnte Autofahrer das Blut und die Schädelknochensplitter entdeckten und hysterisch aufschrien, wandte Emile Jacques dem Park bereits den Rücken zu, um wieder in seinen Wagen zu steigen; und als die Metropolitan Police in aller Eile ein Sonderkommando einrichtete, um ihre Ermittlungen anzustellen, war Emile Jacques mit bedächtiger Fahrweise bereits auf dem Rückweg nach Frankreich und auf halber Strecke nach Dover.
Nicht schlecht, dachte er. Am Ende war es nicht schlecht gelaufen, obwohl es schwierig gewesen war, die Sache einzufädeln.
Als man ihm den Job Ende Oktober angeboten hatte, hatte er wie gewohnt unbewaffnet das Terrain sondiert, hatte die Lebensgewohnheiten seines Opfers studiert und die günstige Gelegenheit bemerkt, die die zahlreichen Ampeln an einem bestimmten Eingang des Hyde Parks darstellten. Mit einer Stoppuhr war er die normale tägliche Route seines Opfers wieder und wieder abgefahren, bis er auf die Sekunde genau die maximale und die minimale Zeitspanne kannte, die ein Wagen warten mußte, bis die Ampel von Rot auf Grün sprang. Red Millbrook verließ sein Haus zu unterschiedlichen Zeiten, nahm aber so gut wie immer den Weg über den Park, um allzu dichten Verkehr zu meiden. Alle vier Tage oder häufiger mußte er an der Ampel stehenbleiben. Jedes Mal, wenn die Ampel ihn aufhielt, saß er schutzlos in seinem Auto. Dort konnte er ihn durchaus töten, befand Emile Jacques, wenn er es nur schnell machte.
Zu Hause übte er dann mit einem Stadtplan und einer Pistole an seinem eigenen Autofenster, bis er wußte, daß er den Überfall binnen Sekunden würde ausführen können. Dann nahm er das Angebot, das man ihm gemacht hatte, an, und als er im November die vereinbarte Vorauszahlung erhalten hatte, setzte er von Dieppe nach Newhaven über (zur Abwechslung) und fuhr mit seinem deklarierten Waffenkoffer durch den Zoll.
Von da an ging fast sofort alles mögliche schief. Red Millbrook verließ London und fuhr zu einer zweitägigen Rennveranstaltung in Ayr nach Schottland; von dort aus fuhr er in aller Seelenruhe Richtung Süden, machte bei Freunden und Besitzern Station, um ihnen im ganzen Norden des Landes einen Sieg nach dem anderen einzuheimsen, Emile Jacques saß nervös und hilflos in London und fühlte sich angreifbar, und als Red Millbrook endlich in das Haus seiner Eltern zurückkehrte, kam es zu einem Wettereinbruch mit stürmischem Wind, Hagelschlag und ausgiebigen Regengüssen; die Art von Wetter, bei der kein
Tourist herumspazieren und sich mit einem Stadtplan nach dem Weg erkundigen würde.
Zu guter Letzt studierte Emile Jacques mit großer Sorgfalt eine Rennzeitung und fand mit Hilfe seines englischfranzösischen Wörterbuchs heraus, daß das ihm versprochene, auf mangelnder Gesundheit fußende Alibi seines Kunden keine Gültigkeit mehr hatte. Da ihm überdies unangenehm bewußt war, daß die Empfangsdame seines kleinen Hotels langsam den Wunsch entwickelte, mit dem ruhigen Gast mit dem französischen Akzent zu flirten, wandte Emile Jacques sich gänzlich von seiner Mission ab und fuhr vorsichtigerweise nach Hause.
Es war drei Wochen später, als das Wetter an einem Freitagmorgen im Dezember kalt, aber sonnig war, daß Red Millbrook an der Ampel stehenblieb und starb.
Die Empörung, die die Rennwelt erschütterte, überraschte Emile Jacques in Frankreich. Ihm war nicht bewußt gewesen, mit welcher Inbrunst die Briten ihren Sporthelden huldigten, und er war ungemein bestürzt zu hören, daß er (der Attentäter) gelyncht werden würde (mindestens), falls man ihn fand. Es wurde ein Fonds eingerichtet, dem in einer Flut von Gefühlen von jeder Rennbahn Gelder zuflossen und aus dessen Quelle ein verlockender Preis auf den Kopf des Mörders ausgesetzt wurde.
Emile Jacques Guirlande saß an seinem gewohnten, unauffälligen Ecktisch in dem Cafe in der Nähe seiner Wohnung und übersetzte sorgfältig, Wort für Wort, die Nachrufe, die die englische Rennpresse zum Ruhm des toten Wunderkindes veröffentlichte. Emile Jacques schürzte die Lippen und unterdrückte ein Gefühl des Bedauerns.
Der Wirt, ein vierschrötiger Mann mit einer gewaltigen Schürze und einem schweren Schnurrbart, blieb neben Emile Jacques stehen und gab seine Meinung zum besten.
«Nur ein Teufel«, sagte er und zeigte auf Red Mill-brooks attraktives Foto,»kann einen solchen Prachtburschen töten. «Er seufzte über die Bosheit der Welt und fügte hinzu:
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