«So viel Hunger können Sie doch nicht haben!«rief Dart aus.
«Ich muß fünf Mäuler stopfen.«
«Guter Gott. Hatte ich vergessen.«
Wir tranken das Bier, während wir auf die Sandwiches warteten, und dann fuhr er uns gutmütig durch den hinteren Eingang wieder auf die Rennbahn und hielt bei Rogers Haus, vor dem Bus.
Neben dem Haupteinstieg des Busses befand sich ein kleines Außenfach, in dem ich vor langer Zeit eine Glocke wie bei einem Milchwagen angebracht hatte. Dart sah belustigt zu, wie ich sie jetzt herausklappte und Sturm läutete.
Die Cowboys kamen von der Prairie heim, hungrig, trocken, ohne Fehl, und setzten sich auf Kisten und Hauklötzer, um ihr Mittagsbrot im Freien einzunehmen. Ich blieb mit dem Gehgestell stehen. Für die Jungen ein inzwischen gewohnter Anblick, den sie als selbstverständlich hinnahmen.
Sie hatten eine Festung aus Ästen und Stöcken gebaut, sagten sie. In dem Fort saß die US-Kavallerie (Christopher und Toby), und draußen waren die Indianer (alle anderen). Die Indianer waren (natürlich) die Guten, und sie hätten gern das Fort gestürmt und ein paar Skalps erbeutet. List und Tücke seien gefragt, meinte Häuptling Edward. Alan Rotfeder war sein bewährter Kundschafter.
Dart, der auch ein Sandwich aß, bezeichnete Neils grelle Kriegsbemalung (Mrs. Gardners Lippenstift) als einen Sieg der politischen Korrektheit.
Keiner von ihnen wußte, was er meinte. Ich sah, wie Neil die Worte stumm mit den Lippen formte, um sie zu speichern und später danach zu fragen.
Wie die Heuschrecken verputzten sie das Mayflower-Essen, und da mir der Augenblick günstig erschien, sagte ich zu ihnen:»Gebt Dart doch mal das Rätsel mit dem Pilger auf. Das interessiert ihn bestimmt.«
Christopher begann entgegenkommend:»Ein Pilger kam zu einer Weggabelung. Ein Weg führte in die Sicherheit, der andere in den Tod. An beiden Wegen stand ein Wächter.«
«Es waren Zwillinge«, sagte Edward.
Christopher nickte und erzählte weiter.»Der eine Zwilling sagte immer die Wahrheit, und der andere log immer.«
Dart wandte den Kopf und starrte mich an.
«Es ist ein sehr altes Rätsel«, sagte Edward, als müsse er sich entschuldigen.
«Der Pilger durfte nur eine Frage stellen«, sagte Toby.
«Eine einzige. Und um lebend davonzukommen, mußte er herausfinden, welcher Weg in die Sicherheit führt. Was hat er also gefragt?«
«Er hat gefragt, welcher Weg der sichere ist«, sagte Dart bedächtig.
Christopher sagte:»Welchen Zwilling hat er gefragt?«
«Den wahrheitsliebenden.«
«Aber woher sollte er denn wissen, wer von ihnen die Wahrheit sprach? Sie sahen beide gleich aus. Sie waren Zwillinge.«
«Conrad und Keith sehen nicht gleich aus«, sagte Dart.
Die Kinder verstanden den Einwand nicht und drängten weiter. Toby hakte nach:»Welche Frage hat der Pilger gestellt?«
«Hab keinen blassen Schimmer.«
«Denken Sie nach«, befahl Edward.
Dart drehte sich zu mir um.»Retten Sie mich!«sagte er.
«Das hat der Pilger aber nicht gesagt«, belehrte Neil ihn genüßlich.
«Wißt ihr es alle?«
Fünf Köpfe nickten.»Papa hat es uns gesagt.«
«Dann sollte der Papa es mir auch sagen.«
Aber Christopher übernahm das Erklären.»Der Pilger durfte nur eine Frage stellen, also ging er zu einem der
Zwillinge und sagte: >Wenn ich deinen Bruder frage, welcher Weg aus der Gefahr herausführt, welchen Weg wird er mir weisen?<���«
Christopher schwieg. Dart sah verdutzt aus.»Das war’s?«fragte er.
«Das war’s. Also, was hat der Pilger gemacht?«
«Nun, er… ich geb mich geschlagen. Was hat er gemacht?«
Sie rückten nicht mit der Sprache heraus.
«Ihr seid vom Teufel geritten«, meinte Dart.
«Einer von den Zwillingen war ein Teufel«, sagte Edward,»und der andere war ein Engel.«
«Das hast du dir gerade ausgedacht«, warf ihm Toby vor.
«Na, und? Dadurch wird es doch interessanter.«
Mit einem Mal waren sie alle das Rätsel leid und zogen nach alter Gewohnheit los, zurück zu ihrem Phantasiespiel.
«Herr des Himmels!«rief Dart aus.»Das ist verdammt noch mal nicht fair.«
Ich lachte leise in mich hinein.
«Was hat denn nun der Pilger gemacht?«
«Knobeln Sie es aus.«
«Sie sind genauso schlimm wie Ihre Kinder.«
Dart und ich setzten uns wieder in seinen Wagen. Er legte das Gehgestell auf die Rückbank und meinte:»Keith hat Sie wirklich bös erwischt, was?«
«Nein, das war die Explosion. Das Dach ist eingestürzt.«
«Und auf Sie gefallen. Habe ich schon gehört.«
«Von den Schulterblättern abwärts«, bestätigte ich.»Hätte schlimmer kommen können.«»Na klar. «Er ließ den Motor an und fuhr den Serviceweg entlang.»Also, was hat der Pilger gemacht?«
Ich lächelte.»Er hat sich von einem der Zwillinge sagen lassen, welche Straße die sichere sei, und ist dann die andere entlanggegangen. Denn seine Frage war so formuliert, daß beide Zwillinge ihm die Straße zum Tod zeigen würden.«
Er überlegte nur kurz.»Wieso?«
«Fragt der Pilger den ehrlichen Zwilling, welchen Weg aus der Gefahr sein Bruder ihm weisen würde, dann muß der ehrliche Zwilling, der ja weiß, daß sein Bruder immer lügt, auf den Weg zeigen, der in den Tod führt.«
«Da komme ich nicht mit.«
Ich erklärte das Ganze noch einmal.»Und«, sagte ich,»wenn es sich trifft, daß der Pilger den verlogenen Zwilling fragt, welchen Weg aus der Gefahr sein Bruder weisen würde, dann antwortet der Lügenbold, der weiß, daß sein Bruder die Wahrheit sagen würde, mit der Unwahrheit. Auch der verlogene Bruder zeigt also auf den Weg, der in den Tod führt.«
Dart verfiel wieder in Schweigen. Schließlich sagte er:»Verstehen Ihre Söhne das?«
«Ja. Sie haben es szenisch durchgespielt.«
«Zanken die sich niemals?«
«Doch, natürlich. Aber sie sind so oft umgezogen, daß sie außerhalb der Familie kaum Freundschaften geschlossen haben. Sie halten zusammen. «Ich seufzte.»Das wird sich auch bald ändern. Christopher ist für die Hälfte ihrer Spiele schon zu alt.«
«Schade.«
«Das Leben geht weiter.«
Dart brachte sein rostiges Gefährt sacht auf dem Behelfsparkplatz vor Rogers Büro zum Stehen.
Ich sagte zögernd:»Waren Sie gestern morgen wirklich mit dem Wagen hier, wie Harold Quest behauptet?«
«Nein. «Dart nahm die Frage nicht übel.»Und zwischen acht und halb neun war ich effektiv zu Hause im Bad beschäftigt, weil ich nämlich — und lachen Sie jetzt bloß nicht, ich erzähle das sonst keinem — einen neuen Kopfhautvibrator habe, der den Haarausfall bremsen soll.«
«Schlangenöl«, sagte ich.
«Verflucht, Sie sollten doch nicht lachen.«
«Ich lache ja auch nicht.«
«Ihre Mundwinkel zucken.«
«Jedenfalls glaube ich Ihnen schon der Haare wegen«, sagte ich,»daß Sie gestern morgen um zwanzig nach acht nicht mit Ihrer Klapperkiste voller Sprengschnur und Plastiksprengstoff auf die Rennbahn gekommen sind.«
«Tausend Dank.«
«Die Frage ist, ob sich jemand ohne Ihr Wissen Ihren Wagen ausgeliehen haben könnte. Ginge es vielleicht, daß der Sprengstoffexperte oder die Polizei den Wagen einmal auf Nitratspuren prüfen?«
Er sah entgeistert aus.»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«
«Irgend jemand«, erläuterte ich,»hat gestern Sprengstoff zu der Treppe im Tribünenbau geschafft. Verlegt wurde das Ganze wahrscheinlich nach sieben, als der Nachtwächter gegangen war. Da war es inzwischen taghell. Aber da wir Karfreitag hatten, war das Gelände verlassen bis auf Harold Quest und seine Kumpel am Eingang, und wieweit man denen trauen kann, weiß ich nicht.«
«Die verlogenen Zwillinge«, sagte Dart.
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