Unglaublicherweise filmte der Polizist von draußen vor dem Fenster weiter.
Ich ergriff die Haltestangen der Bahre, die Finger verkrampft in der elementaren Furcht zu fallen. Die Feuerwehrleute faßten mich am Schultergurt, hoben die Bahre, brachten sich und mich mit einem Ruck außer Gefahr, und plötzlich hatten wir alle wieder die Sonne im Gesicht, ein verlotterter Haufen, gebeutelt, Staub hustend, aber lebendig.
Einfach wurde es auch da noch nicht. Die betonierten Sitzreihen der Tribüne reichten nur bis zur Etage unter dem Richternest, und um das Rettungsgerät die letzten drei Meter heraufzubringen, hatte man ein kompliziertes Gerüst aufstellen müssen. Unten bei den Rails, wo das Publikum an Renntagen die Starter ins Ziel jubelte, waren die Zuschauerplätze auf dem Rasen und dem Asphalt mit Fahrzeugen vollgestellt: Löschzüge, Polizeiwagen, Krankenwagen — und zu allem Überfluß der Ü-Wagen eines Fernsehsenders.
Ich sagte, es wäre doch viel besser und angenehmer, wenn ich aufstehen und auf den eigenen Füßen hinunterklettern würde, aber niemand beachtete mich. Der Arzt erschien wieder und sprach von inneren Verletzungen und der Notwendigkeit, mich vor mir selbst zu schützen, und so erhielt ich gegen meinen Willen einen Schnellverband, wurde unter eine Decke gepackt, auf der Bahre festgezurrt und langsam, behutsam Schritt für Schritt nach unten und zu den Rettungswagen transportiert. Ich bedankte mich bei den Feuerwehrleuten. Sie grinsten.
Am Ende des Weges standen fünf Jungen nebeneinander, verängstigt und fürchterlich angespannt.
Ich sagte:»Mir geht’s prima, Jungs«, aber sie wirkten nicht überzeugt. Ich wandte mich an den Arzt:»Das sind meine Kinder. Sagen Sie ihnen, daß ich auf dem Damm bin.«
Er sah auf mich und auf ihre unglücklichen jungen Gesichter.
«Euer Vater«, sagte er mit Bedacht,»ist groß und kräf-tig, und es geht ihm soweit gut. Er hat ein paar Prellungen und Schnittwunden, auf die wir ihm ein Pflaster kleben werden. Ihr könnt ganz beruhigt sein.«
Sie lasen das Wort» Arzt «auf der Vorderseite seiner leuchtend grünen Jacke und beschlossen, ihm einstweilen zu glauben.
«Wir bringen ihn jetzt hier ins Krankenhaus«, sagte der Mann in Grün, auf eine wartende Ambulanz deutend,»aber er ist bald wieder bei euch.«
Roger erschien neben den Jungen und sagte, seine Frau und er würden sich um sie kümmern.»Seien Sie unbesorgt«, sagte er.
Die Sanitäter schoben mich mit den Füßen voran in ihr Fahrzeug.
Ich sagte zu Christopher:»Möchtet ihr, daß eure Mutter kommt und euch nach Hause holt?«
Er schüttelte den Kopf.»Wir wollen im Bus bleiben.«
Die anderen nickten stumm.
«Ich ruf sie mal an«, sagte ich.
Toby sagte eindringlich:»Nein, Pa. Wir wollen im Bus bleiben. «Ich merkte, daß er immer noch viel zu beunruhigt war. Alles, was dem abhalf, konnte nur gut sein.
«Also dann spielt Einsame Insel.«
Sie nickten alle, auch Toby, der erleichtert aussah.
Der Arzt fragte, während er mein Krankenblatt für den Transport ausfüllte:»Was heißt denn Einsame Insel?«
«Daß sie eine Zeitlang auf sich gestellt sind.«
Er lächelte beim Schreiben.»Herr der Fliegen?«
«So weit laß ich es nicht kommen.«
Er gab das Formular einem der Sanitäter und blickte noch einmal zu den Jungen.»Feine Kerle.«»Die sind bei mir gut aufgehoben«, versicherte Roger nochmals.»Kein Problem.«
«Ich rufe Sie an«, sagte ich.»Vielen Dank auch.«
Die fleißigen Sanitäter warfen hinter mir die Tür zu, und später erfuhr ich, daß Mrs. Gardner den Jungen Rosinenkuchen vorsetzte, bis sie kein Stück mehr herunterbrachten.
Von meinen Verletzungen her rangierte ich auf der Prioritätenliste der Unfallstation ziemlich weit unten, doch die Lokalmedien schenkten mir mehr Beachtung, als mir lieb war. Der Äther schwirrte förmlich vom» Bombenterror auf der Rennbahn«. Ich bat ein paar teils genervte, teils hingerissene Schwestern, das Telefon benutzen zu dürfen, und rief meine Frau an.
«Was zum Teufel ist bloß los?«wollte sie mit schriller Stimme wissen.»Gerade hat irgend so eine blöde Zeitung angerufen, ob ich wüßte, daß mein Mann und meine Söhne in die Luft gejagt worden sind. Ist das zu glauben?«
«Amanda…«
«Du bist doch offensichtlich nicht in die Luft gejagt worden.«
«Welche Zeitung?«
«Was liegt daran? Ich weiß es nicht mehr.«
«Ich werde mich beschweren. Aber hör mal zu. Irgendein Kampfhahn hat auf der Stratton-Rennbahn Sprengstoff ausgelegt, und so ist wirklich ein Teil der Tribüne hochgegangen — «
Sie unterbrach.»Die Jungen. Ist ihnen nichts passiert?«
«Gar nichts. Sie sind völlig in Ordnung. Nur Toby war noch in der Nähe, und ein Feuerwehrmann hat ihn rausgeholt. Ich versichere dir, daß keiner von ihnen verletzt ist.«
«Wo seid ihr jetzt?«»Die Jungen sind beim Rennbahnverwalter und seiner Frau — «
«Nicht bei dir? Wieso sind sie nicht bei dir?«
«Weil ich gerade… hm. Ich bin im Nu wieder bei ihnen. Ich habe ein paar Kratzer abbekommen, die hier im Krankenhaus verbunden werden, dann fahr ich wieder zu ihnen. Christopher ruft dich noch an.«
Jeden Abend redeten die Jungen über das Mobiltelefon im Bus mit ihrer Mutter; Familienbrauch bei Rundfahrten.
Amanda zu besänftigen und zu beruhigen dauerte ein wenig. Es sei offensichtlich meine Schuld, fand sie, daß die Jungs in Gefahr geraten waren. Ich stritt es nicht ab. Ich fragte sie, ob sie wollte, daß sie nach Hause kamen.
«Was? Nein, davon war nicht die Rede. Du weißt, daß ich am Wochenende eine Menge vorhabe. Sie sollten schon bei dir bleiben. Gib nur besser auf sie acht.«
«Ja.«
«Was sage ich denn nun, wenn noch eine Zeitung anruft?«
«Sag, daß du mit mir gesprochen hast und daß alles bestens ist. Möglicherweise siehst du was darüber im Fernsehen, die haben auf der Rennbahn gefilmt.«
«Paß bloß auf, Lee.«
«Ja.«
«Und ruf heute abend nicht an. Ich nehme Jamie mit zu Shelly und übernachte da. Ihr Geburtstagsdinner, wie du weißt, ja?«
Shelly war ihre Schwester.»In Ordnung«, sagte ich.
Wir verabschiedeten uns höflich wie immer. Essig, mühsam verdünnt.
Die verschiedenen Schnitt- und Schürfwunden, die ich weitgehend heruntergespielt hatte, wurden schließlich freigelegt und kopfschüttelnd bestaunt. Man wusch Sand und Staub heraus, entfernte eindrucksvolle Splitter mit der Pinzette und setzte mir bei örtlicher Betäubung reihenweise Klammern.
«Wenn das abklingt, spüren Sie’s«, teilte der Klammerer mir fröhlich mit.»Einige von diesen Wunden sind tiefer, als es aussieht. Wollen Sie bestimmt nicht über Nacht hierbleiben? Wir finden auf jeden Fall ein Bett für Sie.«
«Sehr freundlich«, sagte ich,»aber nein, danke.«
«Dann legen Sie sich ein paar Tage auf den Bauch. Kommen Sie in einer Woche wieder, und wir entfernen die Klammern. Bis dahin müßte alles verheilt sein.«
«Vielen Dank«, sagte ich.
«Nehmen Sie regelmäßig die Antibiotika.«
Das Krankenhaus ließ mich (auf mein Drängen über eine Seitenstraße) zurück zu Roger Gardner bringen, und in einen blauen Morgenmantel gehüllt, bewältigte ich den letzten Teil der Reise mit Hilfe eines geborgten Gehgestells in der Vertikalen.
Der Bus war, wie ich dankbar feststellte, ans Haus gefahren und vor die entrümpelte Garage gestellt worden. Seine fünf jugendlichen Bewohner sahen im Wohnzimmer der Gardners fern.
«Papa!«riefen sie und sprangen auf, um beim Anblick der Gehhilfe für ältere Herrschaften dann unsicher zu verstummen.
«Ja«, sagte ich,»über das Teil wollen wir mal nicht kichern, okay? Mir sind eine Menge Steine und Holz ins Kreuz und auf die Beine gefallen, und die Schnittwunden, die es dabei gab, sind jetzt genäht worden. Es sind einige auf dem Rücken, ziemlich viele an den Beinen, und eine geht quer über meinen Hintern, so daß ich mich nicht ohne weiteres hinsetzen kann, und auch darüber gibt es nichts zu lachen.«
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