«Hier ist Papa«, sagte ich gedehnt, damit sie mich genau verstehen konnten,»Christopher, Toby, Edward, Alan, auf der Tribüne ist es gefährlich. Wo immer ihr euch versteckt haltet, jetzt verlaßt die Tribüne und kommt zu dem Tor an den Rails, da, wo wir vorigen Sonntag die Bahn runtergegangen sind. Kommt vorn heraus und versammelt euch an dem Tor. Das Tor ist der Treffpunkt. Kommt sofort. Das Bastillespiel ist erst mal aus. Ihr müßt unbedingt sofort zu dem Tor kommen, durch das wir auf die Bahn gegangen sind. Es ist nicht weit vom Ziel weg, und jetzt ab mit euch. Die Tribüne ist gefährlich. Sie kann jeden Augenblick in die Luft gehen.«
Ich schaltete kurz aus und sagte zu Neil:»Weißt du, wie man zu dem Tor kommt?«
Er nickte und beschrieb mir genau den Weg.
«Dann geh du bitte auch hin, damit die anderen dich sehen, ja? Und sag ihnen, was du entdeckt hast.«
«Ja, Papa.«
Ich sagte zu Roger:»Haben Sie den Schlüssel für das Tor?«
«Ja, aber — «
«Es wäre mir lieber, sie könnten da raus und hinüber ans Ziel laufen. Selbst das ist vielleicht noch nicht weit genug.«
«Jetzt übertreiben Sie ja wohl«, wandte er ein.
«Das hoffe ich zu Gott.«
Neil hatte nicht gewartet. Ich sah die kleine Gestalt davonrennen.»Wir haben uns mal angesehen, wie ein alter Fabrikschlot gesprengt wurde«, erklärte ich Roger.»Die Jungen waren fasziniert. Sie haben auch gesehen, wie die Ladungen angebracht wurden. Das ist erst drei Monate her. «Ich sprach wieder in das Mikrofon.»Kommt runter an das Tor, Jungs. Es ist sehr, sehr dringend. Die Tribünen sind gefährlich. Sie können in die Luft gehen. Lauft schnell. «Ich wandte mich an Roger.»Würden Sie ihnen das Tor aufschließen?«
Er sagte:»Warum gehen Sie nicht selbst?«
«Wäre es nicht besser, ich sehe mal nach der Schnur?«
«Aber — «
«Also ich muß doch klären, ob Neil recht hat, oder? Und wir wissen ja auch nicht, wann die Ladungen gezündet werden sollen. Das kann in fünf Minuten, in fünf Stunden oder heute abend im Dunkeln sein. Die Jungen darf ich aber nicht gefährden. Die müssen sofort raus.«
Roger schluckte und erhob keine Einwände mehr. Beide liefen wir aus dem Büro und zur Tribünenvorderseite, er, um das Tor aufzuschließen, ich, um festzustellen, ob sie alle in Sicherheit waren.
Das Grüppchen am Tor wuchs auf vier an, als Neil dazustieß. Vier, nicht fünf.
Vier. Nicht Toby.
Ich rannte in Olivers Büro zurück und ergriff das Mikrofon.
«Toby, das ist jetzt kein Spiel. Komm von der Tribüne runter, Toby. Es ist gefährlich auf der Tribüne. Toby, tu um Himmels willen, was ich sage. Das ist jetzt kein Spiel.«
Ich hörte meine Stimme überall im Gebäude und auf den Sattelplätzen widerhallen. Ich wiederholte den Aufruf und lief dann erneut um die Tribüne herum nach vorn, um zu sehen, ob Toby gehört und gehorcht hatte.
Vier Jungen. Vier Jungen und Roger gingen über die Bahn zur Ziellinie. Sie liefen nicht. Wenn Toby sie sah, würde er keinen Grund zur Eile erkennen.
«Du kleiner Mistkerl, komm«, sagte ich leise. »Hör einmal in deinem Leben auf mich.«
Ich lief wieder ans Mikrofon und sagte es unverblümt und laut.»Auf der Tribüne sind Sprengladungen, Toby, hörst du mich? Erinnerst du dich an den Fabrikschornstein? So kann auch die Tribüne hochgehen. Komm schnell da raus, Toby, und lauf zu den anderen.«
Wieder lief ich auf den Platz vor der Tribüne, und wieder tauchte Toby nicht auf.
Ich war kein Abbruchspezialist. Wenn ich ein Gebäude bis auf die Grundmauern abreißen wollte, machte ich das gewöhnlich Stein für Stein und rettete, was noch zu retten war. Im Augenblick wäre ich froh gewesen, ich hätte mehr gewußt. Das Wichtigste war auf alle Fälle, mich davon zu überzeugen, was Neil gesehen hatte, und dafür mußte ich die Haupttreppe hinaufgehen, an der auch die Bar mit dem scharf riechenden Fußboden lag; die Mitgliederbar, in der immer so beklagenswert wenig Betrieb war.
Ich hatte bemerkt, daß es die gleiche Treppe war, die auf einer Ebene durch eine Flügeltür zu den geheiligten, mit Teppich ausgelegten Räumen der Strattons führte. Den Plänen und auch meiner Erinnerung nach war diese Treppe die vertikale Schlagader zur Versorgung aller Etagen der Haupttribüne; das Kernstück des ganzen Hauptgebäudes.
Oben befand sich ein großer verglaster Raum wie ein Kontrollturm, von dem aus die Mitglieder der Rennleitung mit mächtigen Ferngläsern den Rennen zuschauten. Ein moderner Ableger der Treppe führte noch eins höher zu einem Presseraum mit Fernsehanlage, dem Horst für die Bahnsprecher und die schreibende Zunft.
Auf anderen Ebenen gelangte man über die Treppe nach innen zu einem Mitglieder-Speiseraum und nach draußen zu einer Abteilung luftiger, den Elementen ausgesetzter Stehplätze. Im ersten Stock führte ein Gang zu einer Reihe von Logen mit zierlichen, leichten weißen Holzstühlen zur Entlastung der müden Beine reicher Leute.
Ich lief von der Tribünenfront zur Treppe und hinauf zu der stinkenden Mitgliederbar. Die Tür der Gaststube war verschlossen, aber an der weiß gestrichenen Flurwand lief knapp einen halben Meter über dem Boden eine unscheinbare, dicke weiße Schnur entlang, die aussah wie die Wäscheleinen, auf denen man im Garten hinterm Haus die nassen Sachen trocknet.
In Abständen war die Schnur in die Wand eingelassen und kam wieder zum Vorschein, um schließlich in einem durchgehenden Bohrloch zwischen Flur und Bar außer Sicht zu verschwinden.
Neil hatte sich nicht geirrt. Die weiße PseudoWäscheleine war tatsächlich eine sogenannte» Sprengschnur«, die mit einer Geschwindigkeit von rund achtzehntausend Metern pro Sekunde detonieren und alles, was an ihrem Weg lag, in die Luft jagen konnte. Überall da, wo die Schnur in die Wand eingelassen war, befand sich wahrscheinlich eine komprimierte Ladung Plastiksprengstoff. Kompression erhöht immer die Wirkung von Sprengmitteln.
Sprengschnur ist nicht zu vergleichen mit der herkömmlichen Zündschnur, die langsam einem Objekt mit der Aufschrift BOMBEentgegenzischelt wie in Comics und alten Wildweststreifen. Sprengschnur ist selbst ein Sprengmittel; und diese hier lief mindestens vom Stockwerk unter mir bis zum nächsthöheren an den Wänden des Treppenhauses entlang.
Ich brüllte aus vollem Hals, so laut ich konnte:»Toby!«Brüllte» Toby «nach oben und» Toby!«nach unten und bekam keinerlei Antwort.
«Toby, falls du hier bist, hier ist alles voll Sprengstoff. «Ich rief es die Treppe hinauf, die Treppe hinunter.
Nichts.
Er mußte woanders sein, dachte ich. Aber wo? Wo? Alle Gebäude hier konnten mit Sprengschnurgirlanden behan-gen sein, vom Club über den Tattersalls-Ring, wo an Renntagen die Buchmacher ihre Stände aufschlugen, bis zu dem billigsten der drei Ränge, wo es fast mehr Gaststuben als Sitzreihen gab.
«Toby!«rief ich, und die Antwort war Schweigen.
Es bestand keine Aussicht, daß ich auf wunderbare Weise einen offenbar sorgfältig geplanten Anschlag vereiteln konnte. Dazu wußte ich zu wenig — ich wußte nicht einmal, wo ich hätte anfangen sollen. Das Wichtigste für mich war auf alle Fälle die Sicherheit meines Sohnes, und so wandte ich mich wieder hinaus ins Freie, um den Riesenkomplex ein Stück hinunterzulaufen und es noch einmal zu versuchen.
Gerade wollte ich losrennen, da hörte ich einen winzigen Laut, und mir war, als käme er von weiter oben, von irgendwo über mir.
Ich stürzte zwei Etagen höher zum Richternest, dem Ausguck der Rennleitung, und rief noch einmal. Ich suchte die Tür des Raumes zu öffnen, und wie so viele war sie abgesperrt. Da konnte er nicht drin sein, doch ich rief trotzdem.
«Toby, falls du da bist, komm bitte raus. Hier kann alles jeden Moment in die Luft fliegen. Bitte, Toby. Bitte.«
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