«Wo stecken Sie?«fragte Cleve verärgert.
«In einem Hotel. Das ist eine lange Geschichte. Was liegt an?«
«Sie haben Sarge krankheitshalber für neunzig Tage beurlaubt.«
«Was fehlt ihm?«
«Nichts. Er sagt, sie wollen ihn für eine Weile aus dem Haus haben. Dort geht es zu wie in einem Bunker. Alle Leute wurden angewiesen, den Mund zu halten und mit niemandem zu reden. Sie haben eine Heidenangst. Sarge musste heute mittag gehen. Er glaubt, dass Sie in großer Gefahr sind. Er hat in der letzten Woche Ihren Namen tausendmal gehört. Sie sind besessen von Ihnen und davon, wieviel Sie wissen.«
«Wer sind sie?«
«Coal natürlich, und sein Stellvertreter Birchfield. Sie regieren das Weiße Haus wie die Gestapo. Manchmal ist es auch dieser — wie heißt er doch gleich — dieses kleine Frettchen mit der Fliege? Interne Angelegenheiten.«
«Emmitt Waycross.«
«Genau der. Aber in erster Linie sind es Coal und Birchfield, die die Drohungen ausstoßen und die Strategie planen.«
«Was für Drohungen?«
«Niemand im Weißen Haus, der Präsident ausgenommen, darf ohne Coals Zustimmung mit der Presse reden, weder offiziell noch inoffiziell. Das gilt auch für den Pressesprecher. Coal zensiert alles.«
«Das ist ja unglaublich.«
«Sie haben Angst. Und Sarge meint, sie wären gefährlich.«
«Okay. Ich bin untergetaucht.«
«Ich war gestern am späten Abend bei Ihrer Wohnung. Ich wollte, Sie sagten mir Bescheid, bevor Sie verschwinden.«
«Ich melde mich morgen abend wieder.«
«Was fahren Sie?«
«Einen gemieteten viertürigen Pontiac. Sehr sportlich.«
«Ich habe heute nachmittag den Volvo überprüft. Alles in Ordnung.«
«Danke, Cleve.«
«Und Sie sind okay?«
«Ich denke schon. Sagen Sie Sarge, dass es mir gut geht.«»Rufen Sie mich morgen an. Ich mache mir Sorgen.«
Er schlief vier Stunden und war wach, als das Telefon läutete. Draußen war es dunkel, und das würde es noch mindestens zwei Stunden bleiben. Er betrachtete das Telefon und nahm nach dem fünften Läuten den Hörer ab.
«Hallo?«sagte er argwöhnisch.
«Spreche ich mit Gray Grantham?«Es war eine sehr schüchterne Frauenstimme.
«Ja. Wer sind Sie?«
«Beverly Morgan. Sie waren heute abend hier.«
Gray war auf den Beinen, hellwach, und ließ sich kein Wort entgehen.»Ja. Tut mir leid, dass wir Sie aufgeregt haben.«
«Nein. Mein Vater ist sehr besorgt um mich. Und wütend. Die Reporter waren widerlich, nachdem Curtis umgebracht worden war. Sie riefen von überallher an. Sie wollten alte Fotos von ihm und neue Fotos von mir und dem Kind. Sie riefen zu jeder Tages- und Nachtzeit an. Es war grässlich, und mein Vater hatte es satt. Er hat zwei von ihnen von der Veranda heruntergestoßen.«
«Da haben wir ja Glück gehabt.«
«Ich hoffe, er ist Ihnen nicht zu nahe getreten.«
«Durchaus nicht.«
«Jetzt schläft er, unten auf der Couch. Deshalb kann ich mit Ihnen reden.«
«Weshalb schlafen Sie nicht?«fragte er.
«Ich nehme Tabletten, damit ich schlafen kann, und jetzt bin ich völlig aus dem Rhythmus. Ich habe tagsüber geschlafen und bin in den Nächten herumgewandert. «Es war offensichtlich, dass sie hellwach war und reden wollte.
Gray setzte sich aufs Bett und versuchte, sich zu entspannen.»Ich kann mir vorstellen, was für ein Schock das für Sie gewesen sein muss.«
«Es dauert mehrere Tage, bis man es begriffen hat. Zuerst ist der Schmerz grauenhaft. Einfach grauenhaft. Ich konnte kein Glied bewegen, ohne dass es wehtat. Ich konnte einfach nicht denken, weil es so ein Schock war und ich es nicht glauben konnte. Irgendwie habe ich die Beisetzung überstanden, und jetzt kommt sie mir vor wie ein böser Traum. Langweilt Sie das?«
«Durchaus nicht.«
«Ich muss von diesen Tabletten loskommen. Ich schlafe so viel, dass ich überhaupt nicht dazu komme, mit erwachsenen Menschen zu reden. Und außerdem hält mein Vater alle Leute von mir fern. Nehmen Sie das auf?«
«Nein. Ich höre Ihnen nur zu.«
«Heute vor einer Woche wurde er umgebracht. Ich dachte, er arbeitete bis in die Nacht hinein, was nicht ungewöhnlich war. Sie haben ihn erschossen und seine Brieftasche mitgenommen, deshalb konnte die Polizei ihn nicht identifizieren. Ich erfuhr aus den Spätnachrichten, dass in der Innenstadt ein junger Anwalt ermordet worden war, und ich wusste, dass es Curtis war. Fragen Sie mich nicht, woher sie wussten, dass er Anwalt war, obwohl sie seinen Namen nicht kannten. Es war merkwürdig, eines dieser unheimlichen kleinen Dinge, die bei einem Mord passieren.«
«Weshalb arbeitete er noch so spät?«
«Er arbeitete achtzig Stunden in der Woche, manchmal noch mehr. White and Blazevich ist eine Tretmühle. Sie versuchen sieben Jahre lang, die angestellten Anwälte umzubringen, und wenn es ihnen dann nicht gelungen ist, machen sie sie zu Partnern. Curtis hasste die Firma. Er hatte es satt, Anwalt zu sein.«
«Wie lange war er dort?«
«Fünf Jahre. Er verdiente neunzigtausend im Jahr, also nahm er die Schufterei in Kauf.«
«Wissen Sie, dass er mich angerufen hat?«
«Nein. Mein Vater teilte mir mit, dass Sie das gesagt hätten, und ich habe den ganzen Abend darüber nachgedacht. Was hat er gesagt?«
«Seinen Namen hat er mir nie genannt. Er gebrauchte den Namen Garcia. Fragen Sie mich nicht, wie ich herausbekommen habe, wer er in Wirklichkeit war — das würde Stunden dauern. Er sagte, er wüsste möglicherweise etwas über die Morde an den Richtern Rosenberg und Jensen, und er wollte mir sagen, was er wusste.«
«Sein bester Freund in der Grundschule hieß Randy Garcia.«
«Ich hatte den Eindruck, als hätte er im Büro irgend etwas gesehen und als wüsste vielleicht irgendjemand im Büro, dass er es gesehen hatte. Er war sehr nervös und rief immer von Telefonzellen aus an. Wir hatten uns für frühmorgens am vorletzten Samstag verabredet, aber kurz vorher rief er mich an und sagte die Verabredung ab. Er hatte Angst und sagte, er müsse an seine Familie denken. Haben Sie irgend etwas davon gewusst?«
«Nein. Ich wusste, dass er unter Stress stand, aber das war in den letzten fünf Jahren ständig der Fall. Er hat zu Hause nie über das Büro geredet. Er hasste den Laden.«
«Warum hasste er ihn?«
«Er arbeitete für einen Haufen Halsabschneider, einen Haufen Ganoven, die seelenruhig zusahen, wie jemand für einen Dollar verblutete. Sie geben tonnenweise Geld aus für die Fassade der Respektabilität, aber sie sind Abschaum. Curtis war ein Spitzenstudent und konnte sich aussuchen, für wen er arbeiten wollte. Sie waren prächtige Kerle, als sie ihn einstellten, und absolute Ungeheuer, wenn man mit ihnen arbeiten musste. Absolut unmoralisch.«
«Und weshalb ist er dann bei der Firma geblieben?«
«Das Gehalt wurde immer besser. Vor einem Jahr wäre er beinahe gegangen, aber aus dem anderen Job wurde nichts. Er war sehr unglücklich, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Ich glaube, er fühlte sich schuldig, weil er einen solchen Fehler gemacht hatte. Wir hatten eine Art kleine Routine. Wenn er heimkam, fragte ich ihn, wie sein Tag verlaufen wäre. Manchmal war das zehn Uhr abends; dann wusste ich, dass es ein schlimmer Tag gewesen war. Aber er sagte immer, der Tag wäre einträglich gewesen, das war das Wort, einträglich. Und dann sprachen wir über unser Kind. Er wollte nicht über das Büro reden, und ich wollte nichts davon hören.«
Nun ja, so viel über Garcia. Er war tot, und er hatte seiner Frau nichts erzählt.»Wer hat seinen Schreibtisch ausgeräumt?«
«Irgend jemand im Büro. Sie haben das Zeug am Freitag gebracht, alles säuberlich in drei zugeklebte Pappkartons verpackt. Sie können die Sachen gern durchsehen.«
«Nein, besten Dank. Ich bin sicher, dass darin nichts zu finden sein wird. Was für eine Lebensversicherung hatte er?«
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