Er wußte nie, wieviel Zeit vergangen war. Später erfuhr er, daß das ganze Drama etwas über zwei Stunden gedauert hatte. Für ihn hätten es Tage sein können. Der Schmerz erfüllte ihn ganz und gar, seinen Körper, aber auch seinen Verstand, seine Seele, alle seine Gefühle. Es gab nichts mehr jenseits des Schmerzes. Alles war gleichgültig. Er wünschte nur, daß das Hämmern in seinem Fuß, in seinem Bein aufhören würde.
Wie war es dazu gekommen, daß plötzlich ein Schuß fiel? Die Polizei wollte das später ganz genau von ihm wissen, und er zerbrach sich den Kopf, um einen wahrheitsgemäßen Bericht des Geschehens abzugeben. Er hatte dagelegen, zwischen den Usambaraveilchen und den Zwiebeln, hatte den Schmerz in seinem Kopf dröhnen gefühlt. Er hielt die Augen geschlossen, hatte sich eingekapselt in seiner Verzweiflung und seiner Angst. Die Stimme eines der Männer war zu ihm durchgedrungen, vielleicht deshalb, weil sie plötzlich so schrill und aufgeregt klang.
«Die kommen her! Verdammt noch mal! Die Bullen kommen hierher!«
«Okay«, sagte Gérard,»dann sagen wir ihnen jetzt, daß wir die Geisel abknallen. Wenn sie es so haben wollen, dann sollen sie nur noch näher kommen!«
Jemand brüllte etwas nach draußen.
«Die kommen wirklich näher«, rief ein Mann,»die kommen trotz allem näher! Verdammter Mist! Wir hätten abhauen sollen!«
«Dann ist der Typ jetzt fällig«, sagte Gérard,»aber die sollen zuschauen. Stellt ihn auf!«
Mehr noch als vor dem Sterben hatte er Angst gehabt, sie könnten ihn auf die Füße stellen. Er würde den Schmerz nicht überleben. Es war Folter. Er wimmerte, als zwei Männer ihn packten und hochzerrten.
«Bitte nicht!«
Er bettelte, er weinte fast.»Bitte nicht!«
Sie scherten sich nicht darum. Er verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein, was jedoch nicht verhinderte, daß ihn der Schmerz anfiel wie ein wütendes Tier. Ihm traten Tränen in die Augen, liefen ihm über die Wangen, und er konnte nichts dagegen tun. Er ahnte, daß sie ihn vor die Tür bewegen wollten. Er wußte nicht, wie er das aushalten sollte. Er hoffte, er würde ohnmächtig werden.
Ihm war schwarz vor Augen, als sie ihn bis zur Tür geschleift hatten. Er hing in ihren Armen wie ein nasser Sack. Er bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben. Irgendwo in ihm war noch der Gedanke, daß es nachher nicht heißen sollte, er habe in den letzten Minuten seines Lebens gewinselt wie ein Kind.
Was dann geschah, hatte er vor den Polizeibeamten immer wieder zu rekonstruieren versucht, aber es blieben blinde Flecken in seinem Gedächtnis.
«Er richtete die Waffe auf mich.«
«Wer tat das?«
«Der Franzose. Sie nennen ihn Gérard. Ich weiß nicht, ob das sein richtiger Name ist.«
«Er richtete also seine Waffe auf Sie. Wie weit stand er ungefähr von Ihnen entfernt?«
«Drei Schritte? Vielleicht auch vier. Ich stand in der Tür, er stand ein Stück weit im Innern des Gewächshauses. Er zielte genau auf mich.«
«Sie sahen unsere Leute näher kommen?«
Er versuchte sich zu erinnern, aber da waren nur Schemen, die er nicht zu fassen bekam.
«Nein. Ich glaube nicht, daß ich irgend etwas wahrnahm. Oder irgend jemanden. Ich sah nur die Pistole. Ich konnte nicht richtig denken. Die Schmerzen machten mich fast wahnsinnig.«
«Was geschah dann?«
«Es ging alles so schnell… und ich hatte immer wieder die Augen geschlossen. Aber ich glaube, daß Kevin ein paar Schritte links von mir stand. Im selben Moment, als Gérard schoß…«
Er hatte die Augen zusammengekniffen vor Anstrengung, sich zu erinnern,»im selben Moment schrie Kevin auf.«
«Was schrie Mr. Hammond?«
«Er schrie: >Nein
«Er sprang vor Sie?«
Er zuckte hilflos mit den Schultern.»Ich weiß nur, daß er plötzlich da war. Und im selben Moment auch schon zusammenbrach.«
Gérard hatte Kevin direkt ins Herz getroffen. Er war in Sekundenschnelle tot gewesen.»Kann es sein, daß er gestoßen wurde?«»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Aber ich kann es mir eigentlich nicht denken. Warum hätten seine Leute das tun sollen?«
«Warum sollte sich Mr. Hammond für Sie opfern?«
Darüber hatte er auch nachgedacht, immer wieder. Warum sollte sich Kevin für ihn opfern? Sein Leben opfern?
«Ich könnte mir denken, daß er im Reflex gehandelt hat. Daß er verhindern wollte, daß Gérard wirklich schießt. Vielleicht dachte er, Gérard würde es nicht tun, wenn plötzlich ein anderer Mann da steht… Oder es war sein Schuldgefühl. Kevin Hammond ist seit langem mit unserer Familie befreundet. Im Haus meiner Mutter ging er ein und aus. Helene war bereits ums Leben gekommen. Vielleicht hätte er es nicht ertragen, daß noch jemand sterben muß. Er hätte alles getan, um es zu verhindern.«
Er korrigierte sich.»Er hat alles getan.«
Aber daneben war noch ein anderer Aspekt. Den behielt er für sich, weil er für seine Theorie keinen Beweis hatte. Es war ein Gefühl, und er wußte selbst nicht, worauf er es stützte: Etwas sagte ihm, daß Kevin den Tod gesucht hatte. Er wollte sterben. Jetzt, im nachhinein, dachte Alan, daß er seit langem schon eine unbestimmte Todessehnsucht in Kevin gespürt hatte. Vielleicht schon immer. Kevin war nie wie von dieser Welt gewesen, und das hatte nichts zu tun gehabt mit seiner Sexualität. Er war ein Träumer gewesen, ein Mensch, der die Nähe der Blumen mehr gesucht hatte als die der Menschen. Der sich mit einer alten Dame gut verstanden hatte, die ihn gütig und rücksichtsvoll behandelte, die genauso wie er unter den Härten des Lebens und unter der Unsensibilität der Mitmenschen gelitten hatte. Kevin hatte versucht, sich abseits zu halten von allem, was derb war, häßlich und rauh. Er hatte sich ein Leben gezimmert, das schöner, reiner und sanfter gewesen war als das anderer Menschen. Seine Tragödie war es gewesen, schließlich mit dem wirklich Bösen, dem Brutalen und Gewalttätigen enger zusammenzukommen, als das anderen für gewöhnlich passierte. Seit er mit den Verbrechern gemeinsame Sache gemacht hatte, war er immer grauer, immer müder und trauriger geworden. Er war wie ein Schatten gewesen in den letzten zwei Jahren. Nun hatte er sein Leben beendet, dem er sich nicht mehr gewachsen fühlte. Vielleicht hatte er im Bruchteil einer Sekunde seine Chance gesehen und genutzt.
Dann war alles sehr schnell gegangen. Die Polizei hatte das Gewächshaus gestürmt, kaum daß der Schuß gefallen war. Alan hatte zu diesem Zeitpunkt halb bewußtlos auf der Erde gelegen; die Männer hatten ihn fallen lassen, als Kevin tot zusammenbrach. Er wußte nicht, weshalb Gérard nicht ein zweites Mal geschossen hatte. Vielleicht lag es daran, daß die Polizei so rasch dagewesen war. Oder selbst er, in seiner Kälte und völligen Gefühllosigkeit, war erschrocken gewesen, als Kevin plötzlich leblos vor ihm gelegen hatte.
Alan war nicht sicher, ob er tot war oder lebendig war. Erst als irgendwann ein Arzt sich über ihn beugte und seinen Fuß abtastete, ihm eine Schmerzspritze gab, die sehr rasch ihre wunderbare Wirkung entfaltete, begriff er, daß er davongekommen war. Und das nächste Bild war dann schon Franca gewesen, die seine Hand hielt und ihm irgend etwas Verworrenes erzählte darüber, daß es ihr leid tue, nicht schneller gehandelt zu haben, sie habe zuerst im Sea View angerufen, und das noch vergeblich, denn Julien sei nun dennoch entkommen, und dann habe sie eine schwere Panikattacke erlitten, und das habe noch einmal Zeit gekostet…
Er verstand nicht ganz, was sie erzählen wollte, aber er sagte einige Male beruhigend:»Es ist doch alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung.«
Er hatte sie angesehen und sich geborgen und getröstet gefühlt.
Er hatte noch nicht gewußt, daß Kevin tot war.
Beatrice trauerte um Kevin, das spürten sie alle. Sie saß dort an dem sonnigen Tag auf der Veranda, hielt sich an ihrem Sherryglas fest und sagte:»Ich werde nie wieder einen Schluck mit ihm trinken.«
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