«O verdammt, Franca, steh nicht da und schau mich an wie das Kaninchen die Schlange!«
Plötzlich fiel ihm ihre erste Begegnung wieder ein — ebenfalls in der Hauteville Road, am selben Tag, als er Gérard zum erstenmal sah. Wie ein Kaninchen vor dem Gewehrlauf, hatte er damals über sie gedacht. Einmal Kaninchen, dachte er, immer Kaninchen!
Warum dachte er nur gerade jetzt solch unwesentliches Zeug?
«Lauf jetzt!«fuhr er sie an.»Lauf, oder ich mach dir Beine!«
Eine lächerliche Bemerkung, aber sie bewegte Franca immerhin, ihren Mund aufzutun.
«Nein. Nicht ohne dich! Komm, ich helfe dir! Steh auf!«
«Es hat keinen Sinn. Ich schaffe das nicht! Bitte, sieh zu, daß du wegkommst. Warne meine Mutter!«
Ihre Augen flackerten.
Jetzt keine Panik! dachte er beschwörend.
Sie rannte los. Als hätte er irgendeinen geheimnisvollen, offenbar entscheidenden Hebel umgelegt. Sie rannte zum Auto, riß die Tür auf, fiel auf den Fahrersitz. Sie startete den Wagen. Er sprang sofort an. Sie wendete mit quietschenden Reifen. Wieder fiel ein Schuß. Der Wagen schlingerte davon.
Gott sei Dank, dachte Alan. Er sank ins Gras zurück. Er schloß für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er Gérard über sich. Das kalte, brutale Gesicht. Es war ohne eine menschliche Regung, unbewegt und von gnadenloser Härte.
Er dachte an Helene. An die Frau, die ihm Märchen erzählt und Geschichten vorgelesen, die ihm abends warme Milch ans Bett gebracht hatte. Er dachte daran, wie sie in dieses Gesicht geblickt hatte, als sie starb. In diese mitleidslosen Augen. Sie hatte nicht darauf hoffen können, daß er Gnade würde walten lassen. Hatte sie das begriffen? Oder war alles so schnell gegangen, daß sie ohnehin nicht hatte begreifen können, was geschah?
Warum nur hatte er unbedingt Kevin aufsuchen, warum unbedingt Detektiv spielen müssen?
Das ist das Ende, dachte er. Flüchtiges Bedauern befiel ihn, weil er so wenig aus seinem Leben gemacht hatte. Dann wandte er den Kopf ab.
Er wollte nicht länger in Gérards Augen starren.
«Es tut mir wirklich leid, was mit Helene passiert ist«, sagte Julien,»es muß entsetzlich für dich sein.«
Sie hatten kaum ein Wort gesprochen, seitdem Alan und Franca gegangen waren. Julien schien tief in eigene Gedanken versunken. Er hatte noch zweimal Kaffee nachbestellt, und Beatrice hatte gedacht, daß ihm langsam das Herz bis zum Hals schlagen mußte. Er trank seinen Kaffee schwarz und ohne Zucker. Hatte er das früher schon getan? Sie überlegte, aber dann fiel ihr ein, daß es im Krieg praktisch keinen Kaffee mehr gegeben hatte, Zucker und Milch schließlich auch nicht mehr, und die schreckliche Ersatzbrühe, die man trank, wäre geschmacklich ohnehin durch nichts zu retten gewesen.
«Es war ein Schock«, erwiderte sie nun auf Juliens Bemerkung hin.»Es ist schon dann ein Schock, wenn ein Mensch überhaupt plötzlich stirbt, aber wenn es auch noch auf diese Weise geschieht… man kann es nicht fassen. Manchmal wache ich nachts auf und denke, ich habe schlecht geträumt. Und dann begreife ich, daß es passiert ist. Daß es von jetzt an zu meinem Leben gehören wird.«
Sie zuckte mit den Schultern.»Zu dem kläglichen Rest meines Lebens jedenfalls. Allzuviel Zeit wird mir sicher nicht mehr bleiben.«
«Du wirst hundert Jahre alt«, prophezeite Julien,»das bedeutet, dreißig Jahre mußt du noch durchstehen.«
«Na ja«, sagte sie gleichmütig,»die schaffe ich wohl auch noch.«
Sie sahen einander an, und plötzlich streckte Julien die Hand über den Tisch, und Beatrice ergriff sie. Sie hielten sich fest und atmeten beide ganz ruhig und gleichmäßig.»Manchmal denke ich…«, begann Julien, aber er unterbrach sich und sprach nicht weiter, und sie drängte nicht, weil sie wußte, was er hatte sagen wollen: Er hatte von dem Leben sprechen wollen, das sie beide hätten führen können und das sie sich nicht gegönnt hatten, das vielleicht ein besseres gewesen wäre als das, was jeder von ihnen nun gehabt hatte; ihm mochte die absolute Unwiederbringlichkeit dieser verpaßten Chance aufgegangen sein.
«Schön, hier mit dir am Meer in der Sonne zu sitzen«, sagte er schließlich statt dessen, und dann schwiegen sie beide wieder, und Beatrice fragte sich, ob er auch befallen war von der Traurigkeit, die sie erfüllte.
Verdammt, dachte sie, manches im Leben läuft einfach so schrecklich schief!
Aber das gehörte dazu, und es hatte keinen Sinn, darüber zu verzweifeln. Sie versuchte, des Schmerzes Herr zu werden, blinzelte in die Sonne, hielt sich mit den Blicken an Castle Cornet fest, das so hoheitsvoll und unberührbar vor dem Hafen thronte und das ihr ganzes Leben begleitet hatte. Seine Massivität gab ihr ein wenig Ruhe zurück, ein Stück Gelassenheit.
Julien sah auf seine Uhr.»Ich muß gehen«, sagte er,»ich habe noch eine Verabredung. Tut mir leid, wenn ich so abrupt…«
Die blonde Serviererin des Sea View hatte sich genähert, blieb an ihrem Tisch stehen.»Mrs. Shaye?«fragte sie.
Beatrice blickte auf.»Ja?«
«Telefon für Sie. Drinnen an der Theke.«
«Oh!«
Sie war überrascht. Sie war noch nie in einem Café oder Restaurant angerufen worden. Sie stand auf.»Bitte, warte noch einen Moment, Julien, ja? Ich bin gleich wieder da.«
Sie hatte den Eindruck, daß er nervös war, es wirklich eilig hatte. Sie nahm sich vor, ihn gleich zu fragen, mit wem er verabredet war. Sie hatte die ganze Zeit gedacht, er sei einfach so nach Guernsey gekommen, aus irgendwelchen sentimentalen Erinnerungen heraus, aber offenbar hatte er wirklich etwas vor.
Mit mir hat er sich nie verabredet, dachte sie, und die Eifersucht war wie ein feiner Stich in ihrem Körper.
Der Telefonhörer lag neben dem Apparat auf der Theke. Die Serviererin, die vorausgegangen war, machte eine Handbewegung.»Hier. Bitte sehr!«
Beatrice nahm den Hörer auf.»Beatrice Shaye«, meldete sie sich.
Am anderen Ende war Franca. Sie hörte sich völlig aufgelöst an.
«Beatrice, sind Sie noch mit Julien zusammen? Gut. Dann halten Sie ihn bitte irgendwie fest. Was? Das kann ich Ihnen nicht ausführlich erklären. Er gehört zu einer Bande, die Schiffe auf den Kanalinseln stiehlt und nach Frankreich verkauft. Ja, ich weiß, das klingt absurd. Aber Alan ist ganz sicher. Kevin gehört auch dazu. Ich muß die Polizei anrufen und in die Perelle Bay schicken und zum Sea View. Julien muß unbedingt dort bleiben. Beatrice, er ist möglicherweise gefährlich. Er hat… er hat vielleicht etwas mit Helenas Tod zu tun. Nein, ich phantasiere nicht. Bitte, Beatrice, glauben Sie mir. Ich bin mit knapper Not entkommen. Sie müssen nichts tun, als Julien festzuhalten. Bitte, machen Sie einfach, was ich Ihnen sage. Ich muß jetzt unbedingt die Polizei anrufen. Wir reden später!«
Sie schaltete das Handy aus. Nach ihrem Gefühl hatte es eine Ewigkeit gedauert, bis sie herausgefunden hatte, wie es funktionierte. Sie stand am Eingang irgendeines Dorfes am Meer, sie wußte nicht, wo sie war, nahm aber an, daß sie sich in der Nähe von Pleinmont befand. Sie hatte am Straßenrand gehalten und sich mit dem Handy beschäftigt. Schon während der Fahrt hatte sie daran herumprobiert, aber es war ihr nicht gelungen, ins Netz zu kommen. Sie sah ein, daß sie im Fahren nichts ausrichten konnte. Wenn es jetzt nicht sofort funktionierte, würde sie das nächste Café oder Restaurant suchen und von dort telefonieren.
Ruhig, ganz ruhig, hatte sie sich ermahnt, du mußt die Nerven bewahren, sonst passiert gar nichts.
Das Handy hatte plötzlich gepiept, und es war ihr sogar gelungen, mit dem Auskunft-Service der Betreibergesellschaft verbunden zu werden. Sie verlangte das Café Sea View in St. Peter Port. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie dann plötzlich eine Frau vom dortigen Personal in der Leitung.
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