Geflüster, Geflüster, in der Tiefe der Nacht.
Ich schloß die Augen und strengte meine Ohren an.
Geflüster, Geflüster. Dann erstarrte ich vor Verwunderung.
Ein Schluchzen. Ein anhaltendes Heulen, das nie mehr enden zu wollen schien.
Der einsame Mensch dort in der Kirche, der Mann mit dem schrecklichen Gesicht und der verlorenen Seele dahinter, ließ seiner furchtbaren Traurigkeit freien Lauf, damit sie den Beichtstuhl, die Kirche und auch mich erschütterte. Schluchzen, Seufzen, und wieder Schluchzen.
Mir kamen selbst die Tränen. Dann Schweigen und – ein Geräusch. Schritte.
Wir suchten das Weite, sprangen schnell in den Wagen.
»Um Himmels willen!« zischte Roy.
Er stieß meinen Kopf nach unten und kauerte sich im Sitz zusammen. Das Monster war wieder draußen; es rannte allein quer über die leere Straße.
Vor dem Friedhofstor wandte es sich noch einmal um. Ein vorbeifahrendes Auto strahlte ihn an wie ein Theaterscheinwerfer. Es erstarrte, wartete und war dann im Friedhof verschwunden.
In einiger Entfernung hinter uns, im Innern der Kirche, bewegte sich ein Schatten, die Kerzen erloschen, die Türen wurden geschlossen.
Roy und ich blickten uns an.
»Mein Gott«, sagte ich. »Welche Sünden sind wohl so groß, daß sie jemand so spät in der Nacht beichten muß? Und dieses Schluchzen! Hast du das gehört? Glaubst du – daß er herkommt, um Gott zu vergeben, weil er ihm dieses Gesicht verliehen hat?«
»Dieses Gesicht. Ja, ja, ja. Ich muß wissen, was er vorhat, ich darf die Spur nicht verlieren!«
Und schon war Roy wieder aus dem Wagen gesprungen.
»Roy!«
»Kapierst du das denn nicht, du Blödmann?« schrie Roy. »Er ist unser Film, unser Monster! Stell dir vor, er entkommt uns! Mein Gott!«
Roy rannte über die Straße.
So ein Narr, dachte ich. Was macht er?
Doch ich traute mich nicht, so weit nach Mitternacht herumzuschreien. Roy setzte über das Friedhofstor und versank wie ein Ertrinkender in den Schatten. Ich schoß im Autositz so unkontrolliert hoch, daß ich mir den Kopf am Wagendach anschlug. Fluchend fiel ich in den Sitz zurück: Roy, verdammt. Verdammt, Roy.
Was ist, wenn jetzt eine Polizeistreife kommt, dachte ich, und mir Fragen stellt? Was haben Sie hier verloren? Meine Antwort? Ich warte auf Roy. Er ist auf dem Friedhof, muß jeden Moment wieder zurück sein. Das wird er doch, oder? Klar, Sie müssen sich nur ein wenig gedulden.
Ich wartete. Fünf Minuten. Zehn.
Unglaublich. Roy kam tatsächlich zurück, doch er bewegte sich, als hätte man ihm Elektroschocks verpaßt.
Langsam, wie ein Schlafwandler, überquerte er die Straße. Er sah nicht einmal, wie sich seine eigene Hand auf den Türgriff legte und die Wagentür öffnete. Er setzte sich auf den Fahrersitz und stierte hinüber zum Friedhof.
»Roy?«
Er hörte mich nicht.
»Was hast du eben dort drüben gesehen?«
Er antwortete mir nicht.
»Kommt er, es, kommt es wieder raus?«
Schweigen.
»Roy!« Ich stieß ihn am Ellbogen. »Rede schon! Was ist?«
»Er«, sagte Roy.
»Ja?«
»Unglaublich«, sagte Roy.
»Ich werde dir glauben.«
»Nein. Sei still. Jetzt gehört er mir. Meine Güte, Junior, was für ein Monster haben wir jetzt.« Endlich drehte er sich zu mir, in seinen Augen ein Feuer, seine Wangen glühten. »Das wird ein Film, Kumpel.«
»Wirklich?«
»Oh«, rief er mit einem Gesicht, das von einer Offenbarung erhellt war. »Absolut!«
»Sonst hast du nichts zu sagen? Nichts davon, was im Friedhof vorgefallen ist, was du gesehen hast? Nur ›Oh, absolut‹?«
»Oh«, sagte Roy, der den Kopf wieder Richtung Friedhof gedreht hatte. »Absolut.«
Die Beleuchtung, die den gefliesten Lichthof der Kirche erhellt hatte, ging aus. Die Kirche lag im Dunkeln. Die Straße lag im Dunkeln. Die Lichter auf dem Gesicht meines Freundes waren verschwunden. Über dem Friedhof sah man erste Anzeichen der Morgendämmerung.
»Oh«, flüsterte Roy.
Dann fuhr er Richtung Heimat.
»Ich kann es kaum erwarten, an meinen Lehm ranzukommen«, sagte er.
»Nein!«
Erschrocken schaute er mich an. Bäche von Straßenlicht rannen über sein Gesicht. Er sah aus wie jemand unter Wasser, unberührbar, unerreichbar, unrettbar.
»Willst du damit sagen, ich darf dieses Gesicht für unseren Film nicht verwenden?«
»Es geht nicht nur um das Gesicht. Ich habe so ein Gefühl … wenn du das tust, sind wir so gut wie tot. Herrgott, Roy, ich habe Angst. Jemand hat dir geschrieben, damit du ihn heute abend findest, vergiß das nicht. Jemand wollte, daß du ihn siehst. Jemand hat auch Clarence dorthin bestellt! Das geht mir alles zu schnell. Wir tun einfach so, als seien wir nie im Brown Derby gewesen.«
»Wie stellst du dir das vor?« fragte Roy entgeistert.
Er fuhr schneller.
Der Wind blies zum Fenster herein, zerrte an meinen Haaren, an meinen Augenlidern und Lippen.
Schatten liefen über Roys Stirn, seine große Habichtsnase hinab und über seinen triumphierenden Mund. Er kam mir vor wie Grocs Mund, oder wie Der Mann, der lacht.
Roy spürte, daß ich ihn ansah. »Na, haßt du mich auch schön?«
»Nein. Ich frage mich nur, wie ich dich all die Jahre habe kennen können, ohne dich zu kennen.«
Roy hielt seine linke Hand zum Fenster hinaus, in der die Skizzen aus dem Brown Derby im Wind flappten und flatterten.
»Soll ich loslassen?«
»Du weißt so gut wie ich, daß du eine Pocketkamera im Gehirn hast. Wenn du diese hier fallen läßt, so hast du jederzeit eine neue Rolle zum Entwickeln hinter deinem linken Augapfel.«
Roy wedelte mit den Blättern. »Das stimmt. Der nächste Satz wird zehnmal so gut.« Die Seiten aus dem Block flatterten hinter uns in die Nacht.
»Damit fühle ich mich auch nicht besser«, sagte ich.
»Ich aber. Das Monster gehört jetzt uns. Uns allein.«
»Ach ja? Wer hat es uns denn geschenkt? Wer hat uns zu diesem Rendezvous geschickt? Wer beobachtet uns, während wir ihn beobachten?«
Roy streckte die Hand aus und malte die Hälfte einer Fratze in die Feuchtigkeit auf der Innenseite der Fensterscheibe.
»Momentan nur meine Muse.«
Danach sagten wir nichts mehr. Den Rest des Heimwegs legten wir in tiefem Schweigen zurück.
17
Um zwei Uhr morgens klingelte das Telefon.
Es war Peg, die aus Connecticut anrief, wo es kurz vor Morgengrauen war.
»Erinnerst du dich an eine Ehefrau namens Peg«, schrie sie, »die vor zehn Tagen zu einer Lehrerkonferenz nach Hartford gefahren ist? Warum hast du mich nie angerufen?«
»Hab’ ich doch. Aber du warst nicht in deinem Zimmer. Ich habe meinen Namen hinterlassen. Herrje, wärst du doch zu Hause.«
»Ach du Schreck«, sagte sie langsam, Silbe für Silbe. »Kaum habe ich die Stadt verlassen, steckst du schon im Schlamassel. Soll Mama nach Hause eilen, nach Hause fliegen?«
»Ja. Nein. Es ist nur der übliche Studioquark.« Ich zögerte.
»Weshalb zählst du bis zehn?« wollte sie wissen.
»Herr im Himmel«, stöhnte ich.
»Du kannst weder Ihm noch mir entkommen. Hast du brav deine Diät eingehalten? Geh auf der Stelle zu einer dieser automatischen Waagen, die einem das Gewicht in roter Tinte ausdrucken, und schicke mir den Zettel. Hey«, fügte sie hinzu, »ich meine es ernst. Soll ich zurückfliegen? Morgen?«
»Ich liebe dich, Peg«, sagte ich. »Komm einfach so zurück, wie es geplant war.«
»Aber was ist, wenn du nicht dort bist, wenn ich zurückkomme? Ist immer noch Halloween?«
Weibliche Intuition!
»Sie haben es um eine Woche verlängert.«
»Das habe ich gleich an deiner Stimme gehört. Mach einen großen Bogen um jeden Friedhof.«
»Wie kommst du denn darauf ?«
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