Nach meiner Litanei schien er sich noch unwohler zu fühlen. Bei jedem Wort versank Clarence noch tiefer in seinem Kamelhaarmantel.
Er nickte nervös. Er blickte nervös zur Tür des Brown Derby hinüber.
»Was machst du hier so spät am Abend?« fragte ich ihn. »Hier ist schon alles nach Hause gefahren.«
»Kann man nie wissen. Ich habe sonst nichts zu tun …«, antwortete Clarence.
Man kann nie wissen. Douglas Fairbanks, von den Toten auferstanden, könnte den Boulevard entlanggeschlendert kommen, oder besser noch: Brando. Fred Allen, Jack Benny und George Burns könnten auf dem Rückweg vom Legion Stadion um die Ecke biegen, wo die Boxkämpfe gerade vorüber und die Menschen glücklich waren, geradeso wie in der guten alten Zeit, die viel angenehmer war als die heutige Nacht, oder die Nächte, die noch kommen würden.
Ich habe sonst nichts zu tun. Genau.
»Richtig«, sagte ich. »Man kann nie wissen. Erinnerst du dich überhaupt noch an mich? An den Bekloppten? Den Behämmerten? Den Marsmenschen?«
Clarences Augen hüpften auf und ab, von meinen Augenbrauen zur Nase, von der Nase zum Kinn, doch er schaute mir nicht in die Augen.
»N-nein«, stotterte er.
»Gute Nacht«, sagte ich.
»Wiedersehen«, sagte Clarence.
Roy führte mich schnurstracks zu seiner Blechkiste. Wir kletterten hinein, wobei Roy ungeduldig seufzte. Kaum saßen wir drin, grabschte er auch schon Block und Bleistift und wartete.
Clarence stand immer noch in der Nähe des Taxis am Straßenrand, als die Türen des Brown Derby aufgingen und das Ungeheuer mit der Unschuld an der Hand herauskam.
Es war eine wunderschöne warme Nacht, denn sonst hätte das, was dann passierte, nicht passieren können.
Das Ungeheuer sog aus vollen Lungen die Luft in sich hinein, augenscheinlich trunken von Champagner und süßem Vergessen. Sollte ihm bewußt sein, daß er ein Gesicht aus einem längst vergessenen Krieg besaß, so ließ er sich das nicht anmerken. Er hielt seine Dame fest an der Hand und führte sie plaudernd und lachend zum Taxi. Plötzlich bemerkte ich an der Art und Weise, wie sie ging und den Blick auf nichts Bestimmtes richtete, daß sie …
»Sie ist blind!«
»Was?« raunzte Roy.
»Sie ist blind. Sie kann ihn nicht sehen. Kein Wunder, daß sie befreundet sind! Er führt sie zum Essen aus und verschweigt ihr, wie er aussieht!«
Roy beugte sich nach vorne und beobachtete die Frau angestrengt.
»Mein Gott«, sagte er, »du hast recht.«
Der Mann lachte, und die Frau stimmte in sein Lachen ein, wie ein benommener Papagei.
In diesem Augenblick drehte sich Clarence, der dem Gelächter und dem Geplänkel zugehört hatte, herum, um sich das Paar anzusehen. Mit halbgeschlossenen Augen hörte er weiter intensiv zu, dann zuckte ein Ausdruck ungläubiger Überraschung über sein Gesicht. Ein Wort explodierte aus seinem Mund.
Das Monster hörte zu lachen auf.
Clarence ging einen Schritt auf den Mann zu und sagte etwas zu ihm. Auch das Lachen der Frau verstummte. Clarence stellte eine zweite Frage. Daraufhin ballte das Monster seine Hände zu Fäusten zusammen, stieß einen Schrei aus und reckte die Arme hoch in die Luft, als wolle es Clarence erschlagen, an Ort und Stelle in das Pflaster rammen.
Clarence ging blökend in die Knie.
Das Ungeheuer stand über ihm, mit zitternden Fäusten, sein Körper wankte hin und her, mehr oder weniger außer Kontrolle geraten.
Clarence brüllte, und die blinde Frau, die vor sich ins Leere tastete, sagte etwas, und das Monster schloß die Augen und ließ die Arme wieder sinken. Sofort sprang Clarence auf und verschwand in der Dunkelheit. Um ein Haar wäre ich aufgesprungen und ihm gefolgt, aus welchem Grund auch immer. Im nächsten Augenblick half das Monster seiner blinden Freundin ins Taxi, und der Wagen röhrte davon.
Roy drehte den Zündschlüssel und raste hinterher.
Am Hollywood Boulevard bog das Taxi nach rechts ab; wir wurden von der roten Ampel und von einigen Fußgängern aufgehalten. Roy ließ den Motor aufheulen, als wolle er sich eine Gasse bahnen, und kaum war der Überweg frei, raste er trotz Stopplicht weiter.
»Roy!«
»Hör auf, meinen Namen durch die Gegend zu schreien. Hat uns ja niemand gesehen. Wir dürfen seine Spur nicht verlieren! Ich brauche ihn! Wir müssen wissen, wo er hinfährt! Wer er ist! Da!«
Weiter vorne sahen wir, wie das Taxi nach rechts in die Gower Street einbog. Vor uns sahen wir auch Clarence unvermindert weiterrennen, doch er sah uns nicht, als wir an ihm vorbeizischten. Seine Hände waren leer. Er hatte die Mappe fallenlassen und vor dem Brown Derby liegenlassen. Wann wird er sie wohl vermissen, fragte ich mich.
»Armer Clarence.«
»Wieso ›arm‹?« fragte Roy.
»Er steckt auch mit drin. Warum hätte er sonst vor dem Brown Derby gestanden? Zufall? Garantiert nicht. Jemand hat ihn herbestellt. Herrje, jetzt hat er all seine großartigen Porträts verloren. Roy, wir müssen zurückfahren und sie in Sicherheit bringen.«
»Wir«, sagte Roy, »müssen immer weiter geradeaus.«
»Ich frage mich«, grübelte ich laut, »was für eine Nachricht Clarence bekommen hat. Was stand da wohl drin?«
»Was stand wo drin?«
Roy überfuhr am Sunset noch eine zweite rote Ampel, um das Taxi einzuholen, das schon fast am Santa Monica Boulevard angelangt war.
»Sie fahren zum Studio«, rief Roy. »Nein, doch nicht.«
Das Taxi war auf dem Santa Monica Boulevard links abgebogen, am Friedhof vorbei.
Erst als wir St. Sebastian erreicht hatten, so ziemlich die unbedeutendste katholische Kirche von ganz L.A., huschte das Taxi links eine kleine Seitenstraße direkt neben der Kirche hinunter.
Ungefähr hundert Meter weiter hielt das Taxi an. Roy bremste und parkte am Rinnstein. Wir beobachteten, wie das Monster die Frau zu einem kleinen weißen Gebäude führte, das im Schatten der Nacht verborgen lag. Er war nur einen Moment lang weg. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, dann kam das Monster zum Taxi zurück, das sogleich mit ihm bis zur nächsten Ecke glitt, eine elegante Kehrtwende machte und uns entgegenkam. Zum Glück waren unsere Scheinwerfer aus. Das Taxi rauschte vorbei. Roy stieß einen Fluch aus, ließ den Wagen an, schoß los und nach einer gemeingefährlichen Wende, die ich aufschreiend überlebte, waren wir wieder auf dem Santa Monica Boulevard, gerade rechtzeitig, um das Taxi vor St. Sebastian anhalten und seinen Passagier aussteigen zu sehen, der sogleich, ohne sich umzusehen, die Stiegen zum erleuchteten Eingang emporhastete. Das Taxi fuhr davon.
Roy ließ unseren Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf einen dunklen Parkplatz unter einem Baum gleiten. »Roy, was hast du …«
»Still!« zischte Roy. »Duck dich. Ducken ist angesagt. Dieser Kerl gehört um Mitternacht so wenig in eine Kirche wie ich auf eine Varietebühne …«
Minuten verstrichen. Die Lichter in der Kirche gingen nicht aus.
»Geh mal nachsehen«, schlug Roy vor.
»Wie bitte?«
»Na schön, ich gehe selbst!«
Schon war er aus dem Wagen gehüpft und streifte sich die Schuhe von den Füßen.
»Komm zurück!« rief ich.
Doch Roy war weg, auf Socken. Ich stieg aus, zog mir die Schuhe aus und folgte ihm. Roy schaffte die Strecke bis zur Kirchentür in zehn Sekunden, ich immer dicht hinter ihm; dort angekommen, drückten wir uns eng an die Außenwand und lauschten. Wir hörten eine Stimme, anschwellend, abschwellend, lauter, dann wieder leiser.
Die Stimme des Monsters! Gehetzt ausgesprochene Monstrositäten, schreckliche Geständnisse, grauenhafte Irrtümer, Sünden, schwärzer als der marmorne Himmel über und unter uns.
Die Stimme des Priesters formulierte kurz und knapp und ebenso dringlich Worte der Vergebung, Verheißungen eines besseren Lebens, in dem das Monster, wenn schon nicht als Schönheit wiedergeboren, so doch mittels Buße einiger kleiner, süßer Freuden teilhaftig werden könne.
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