»Du vergisst dich, Agnes.«
»Findest du? Wenn sich jemand vergessen hat, dann du.« Die Frau in Schwarz schäumte vor Wut. »Kaum zu glauben! Brennt mit einem Judenflittchen durch und bildet sich ein, mir Vorschriften machen zu können. Das soll mal einer verstehen. Hör zu, was ich dir jetzt sage, Herr Kriminalhauptkommissar: Wenn du denkst, ich spinne, bist du schiefgewickelt. Du wirst noch von mir hören, das garantiere ich dir. Du glaubst mir nicht? Wirst schon sehen, großer Bruder, wirst schon sehen! Ich habe Freunde, mächtige Freunde. Verbindungen, von denen du nur träumen kannst.«
»Verbindungen zum Eichmann-Syndikat?«
Sydows Schwester brach in hysterisches Gelächter aus. »Also gut, Tom, falls du es genau wissen willst: Ich habe ihn gekannt – gut gekannt, wenn du verstehst, was ich meine.«
Sydow ließ den Kopf hängen und schwieg.
»Wie dem auch sei – geschadet hat es mir nicht. Im Gegenteil.« Die Hände an der Hüfte, ließ Helen Fitzpatrick ihrem Hohn freien Lauf. »Ich habe ihn mir dienstbar gemacht, nicht umgekehrt. Und soll ich dir was sagen? Der Trottel war wie Wachs in meinen Händen.« Sydows Schwester machte einen Schritt nach vorn. »Du verstehst, was ich damit sagen will? Hüte dich davor, mir in die Quere zu kommen, Tom. Oder besser: Pass auf, dass du uns nicht in die Quere kommst. Es täte mir leid, dir eine Lektion erteilen zu müssen. Oder deiner Familie. Unter uns, Tom: Wenn du schlau bist, packst du deinen Kram und siehst zu, dass du von hier verschwindest. Wenn nicht, setzt du dein Leben aufs Spiel. Du weißt gar nicht, wie viele Leute es gibt, die bereit wären, dich zu …«
Weiter kam Helen Fitzpatrick, geborene von Sydow, nicht mehr. Bleich vor Entsetzen, fuhr ihre Hand an die Brust, während ein Schuss die nächtliche Stille durchbrach. Einen Blick im Gesicht, der zwischen Verblüffung und Zorn schwankte, geriet sie ins Taumeln, drehte sich um die eigene Achse und wich Schritt für Schritt zurück, so weit, bis sie am Ende des Bootsstegs angelangt war.
Unfähig, die Geschehnisse nachzuvollziehen, sah Sydow mit angehaltenem Atem zu. Alles wirkte so unwirklich, so entsetzlich, so widersinnig, dass er sich zunächst in einem Albtraum wähnte. Doch weit gefehlt. Die Frau, welche auf den Rand des Bootsstegs zutaumelte, war kein Hirngespinst, es war seine Schwester, ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Es war ein Geräusch, das ihn aus den Gedanken riss, ein Geräusch, das entsteht, wenn ein Körper auf dem Wasser aufschlägt. Auf einmal hellwach, streifte Sydow die Schuhe ab, riss sich das Jackett vom Leib, schnappte nach Luft, nahm Anlauf – und tauchte in die Fluten ein.
Doch er kam zu spät.
In dem Körper, den er wenige Sekunden später zu fassen bekam, steckte kaum noch Leben, und als er an die Oberfläche emportauchte, erlahmte der Griff, mit dem sich Agnes von Sydow an ihren Bruder geklammert hatte.
*
»Keine Angst, Thomas!«, sprach Abigail Wentworth mit tonloser Stimme, den Blick auf den Leichnam gerichtet, der in Sichtweite des Bootssteges auf dem Wannsee trieb. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Wellen, welchen er wieder Leben eingehaucht hatte, trieben die Tote wie Treibgut vor sich her. »Meinetwegen wirst du keine Scherereien bekommen.«
»Das war nicht mein erster Gedanke, Mutter.«
»Ich weiß, mein Sohn.« Sydows Mutter seufzte gequält auf. »Glaub mir, ich hatte keine Wahl. Wenn etwas Zeit ins Land gegangen ist, wirst du mich verstehen.«
Immer noch wie gelähmt, wandte sich Sydow ab und starrte auf den zusehends stürmischeren See hinaus. »Kannst du mir verraten, was ich jetzt …«, flüsterte er und wurde, bevor er geendet hatte, unterbrochen.
»Nichts.«
»Nichts? Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, mein Sohn, dass ich umgehend die Koffer packen werde.«
»Und dann?«
»Dann werde ich schnellstmöglich nach England zurückkehren!«, versetzte die alte Dame, wandte sich ebenfalls ab und begab sich auf den Rückweg zum Ufer. Dort angekommen, drehte sie sich noch einmal um, den Stock in der Linken und das eisgraue Haupt in die Höhe gereckt. Und rief: »Falls du glaubst, mich wegen Mordes verhaften zu müssen, tu dir keinen Zwang an. Falls nicht, lass mich einfach meiner Wege ziehen. Du wirst mich nie mehr zu Gesicht bekommen, das verspreche ich dir!«
*
Wie lange Sydow am Rande des Bootssteges ausgeharrt hatte, wusste er hinterher nicht mehr. Alles, woran er sich erinnern konnte, war, dass er die Mordwaffe in hohem Bogen ins Wasser geschleudert und sich wegen der Dummheit, auf die er verfallen war, schwere Vorwürfe gemacht hatte. Hätte er nicht erwähnt, wo sich die Pistole befand, wäre seine Mutter nicht zur Mörderin geworden. So einfach war das.
Und so niederschmetternd.
Doch all das zählte nicht mehr. Jetzt zählte nur noch eins, nämlich das Unheil, welches ihm und seiner Familie drohte, abzuwenden.
Und so kam es, dass Tom Sydow, ehemaliger Hauptkommissar der Kripo Berlin, die Taue löste, mit denen die Motorjacht am Steg vertäut war, seine Hose auszog, an Bord kletterte, den Motor anließ und auf die Mitte des Wannsees zuhielt.
Kurz darauf, knapp 200 Meter vom Ufer entfernt, stellte er den Motor wieder ab, holte tief Luft, trat an die Reling – und stürzte sich kopfüber in den See.
Es war nicht leicht, den Wellen zu trotzen, und es war nicht leicht, dem Leichnam auszuweichen, der urplötzlich vor ihm auftauchte. Tom Sydow musste seine ganze Kraft aufbieten, wie so häufig, wenn er mit den Unbilden des Lebens konfrontiert gewesen war. Dank seiner Zähigkeit und dem Willen, dem Tod zu trotzen, erreichte er jedoch sein Ziel. Nur noch zwei, drei Schwimmzüge, und das rettende Ufer war erreicht.
Dort brach er zusammen, und es verstrich viel Zeit, bevor er sich wieder aufrappelte.
Der Scherge und sein Henker
›Der Henker ist ein kleiner Mann von 75 Jahren, er hat einen weißen Bart und silbrige Schläfenlocken. Blut klebt am Ärmel seiner Strickjacke, Tierblut; er ist ein Schochet, ein Schächter. Strenggläubige Kranke rufen ihn, und er bringt ihnen ein Huhn oder ein Lamm, schwenkt es über ihrem Kopf, spricht einen Segen, dann schneidet er dem Tier die Kehle durch. »Es funktioniert, ich habe damit schon Sterbende und Unfruchtbare geheilt«, sagt Schalom Nagar.
In der Nacht zum 1. Juni 1962 tötete Schalom Nagar einen Menschen. Nagar zog an einem Hebel im Trakt A1, im ersten Stock des Gefängnisses von Ramla. Der Hebel löste eine Falltür aus, und einer der größten Nazi-Verbrecher der Welt fiel, an einem Strick hängend, in den Tod.
Zwei Jahre nach seiner Entführung durch den israelischen Geheimdienst aus Argentinien war Adolf Eichmann tot, der Leiter des Referats IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt, zuständig für den Transport der europäischen Juden in die Konzentrationslager.
Die Hinrichtung war ein Triumph für den noch jungen Staat Israel, im Jahr 14 seines Bestehens.
Zurück blieb Schalom Nagar, der einzige Henker Israels. Er hat stellvertretend für eine ganze Nation den Hebel gezogen. Er war es, der Eichmann vom Strick nahm. Seitdem ist Nagars Leben mit dem von Eichmann verbunden, er wird ihn nicht mehr los, diesen Deutschen, der dazu beitrug, sein Volk beinahe auszulöschen.
»Ich war damals erst 26, das war zu viel für mich«, sagt Schalom Nagar. »Ich wollte nie ein Henker sein.«‹
(Aus: Der Spiegel 17/2011, S. 136)
»Ich hatte den Gesetzen des Krieges und meiner Fahne zu gehorchen. Ich bin bereit.«
(Eichmanns letzte Worte)
Epilog
(Berlin, Ramla/Israel, Freitag, 1. Juni 1962)
25
Berlin-Wilmersdorf, Kolonie Emser Platz │ 00:02 h
Bald war es so weit. Endlich.
Er musste nur noch die Kleider wechseln, es sich auf seiner Pritsche bequem machen, den Entschluss, den er gefasst hatte, in die Tat umsetzen. Das Wenige, was zu bedenken war, war bedacht, der Brief, den er an Tom schreiben wollte, war geschrieben, die Vorkehrungen, die er hatte treffen wollen, waren getroffen worden. Im Bruchteil einer Sekunde würde es vorüber sein, das beruhigte ihn.
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