Ich eilte nach vorne, einer der Friedhofsangestellten kam ebenfalls dazu, und gemeinsam kümmerten wir uns um den »Gefallenen«, der nach ein par Sekunden der Orientierungslosigkeit wieder zu sich kam und stöhnend in die Runde blinzelte. Wir brachten den Mann raus in den Gang bei den Leichenzellen und setzten ihn dort auf einen Stuhl. Währenddessen drang tumultartiges Rufen und Schreien aus der Trauerhalle an mein Ohr, und mein Herz begann wie wild zu klopfen, Schweiß trat auf meine Stirn. Was, um alles in der Welt, war denn da los?
Als ich wieder in die Trauerhalle kam, sah ich folgendes Bild: Herr Eisner hatte sich eine der großen Wachskerzen, die unangezündet am Rand der Halle in Reserve standen, geschnappt und war dabei, diese wie einen Prügel drohend über seinem Haupt zu schwingen und damit die Kollegen und Kolleginnen des Verstorbenen aus der Trauerhalle zu vertreiben: »Verschwindet bloß, heimtückisches Pack, scheinheilige Bande, ihr habt meinen Sohn in den Tod getrieben, ihr Mobber, ihr Menschenverächter, Schweine, Banditen …!«
Frau Eisner weinte, die übrigen Trauergäste tuschelten, aber keiner griff ein, und so lang einem das Ganze im Nachhinein vorkommt, es hat nur ein paar wenige Sekunden gedauert, dann waren die Leute von der Stadtverwaltung aus der Trauerhalle verschwunden. Wortlos, ohne Widerworte, mit eingezogenem Kopf und hastig waren sie hinausgelaufen. Herr Eisner stellte die lange, dünne Kerze neben die Eingangstür, klopfte sich sinnbildlich den Staub von den Händen und nahm, seine schwarze Krawatte richtend, neben seiner Frau Platz und begann diese zu beruhigen.
»Es kann losgehen!«, gab ich dem hinter mir inzwischen aufgetauchten Friedhofsleiter das Kommando, und er drückte auf einen Schalter an der Wand, woraufhin vom Band das erste Lied abgespielt wurde, und Pfarrer Diepenholz, der von alledem vor lauter Vorbereitungsstress nichts mitbekommen hatte, zog in die Feierhalle ein.
Als sei nichts gewesen, ließen die Eisners die Trauerfeier vorübergehen, und anschließend soll weder von anderen noch von ihm das Thema angeschnitten worden sein. Und trotzdem wurde natürlich überall heftig getuschelt und diskutiert.
Tage vergingen, und mir war der Spott der städtischen Friedhofsangestellten sicher. Ob das Ernst-August von Hannover gewesen sei, wollte einer wissen, und ein anderer forderte im Scherz eine Gefahrenzulage, wenn wir wieder so gefährliche Leute mitbringen …
Doch es kam der Tag, an dem die Eisners zu uns kamen, um die letzten Angelegenheiten zu besprechen, und bei dieser Gelegenheit überreichte mir Herr Eisner eine Schachtel mit Pralinen (Antonia, wo sind die eigentlich?), um sich zu entschuldigen. Das sei sonst gar nicht seine Art, er habe noch nie jemanden geschlagen, und trotzdem tue ihm der Vorfall an sich kein bisschen leid, nur dass wir vielleicht Ärger deswegen hätten.
»Was war denn da überhaupt los?«, wollte ich wissen, und dann erzählten die Eisners abwechselnd folgende Geschichte:
»Unser Sohn Jens ist etwas zurückgeblieben gewesen, aber verstehen Sie uns bitte nicht falsch, der war nicht behindert oder eingeschränkt, um Himmels willen. Nein, der war als 18-Jähriger noch so ein 15-Jähriger, nicht von der Intelligenz her, sondern so von seinem kindlichen Wesen. Ein ganz Lieber, wissen Sie, das war der Jens.«
»Zurückgeblieben ist vielleicht auch nicht das richtige Wort, eher könnte man sagen, dass er dem ganzen Rummel, den junge Leute oft so machen, eher skeptisch gegenüberstand und sich lieber mit Büchern beschäftigte und viel mit seinem Fotoapparat in der Natur unterwegs war. Wenn die anderen sich samstags verabredeten, zog er lieber durch den Wald und knipste Spechte und Eichhörnchen. Manchmal haben wir uns sogar Sorgen gemacht und uns gefragt, ob mit ihm was nicht stimmt, aber im Grunde war uns das so lieber. Er hat ja keinem was getan und niemandem geschadet, und ihm hat es ja an und für sich auch nicht geschadet.«
»Auf der Arbeit bei der Stadtverwaltung war er damit aber ein Außenseiter, da heißt es ja jeden Tag ›hoch die Tassen‹ und es gibt ja immer was zu feiern. Mal hat einer Geburtstag, mal wird jemand Vater, und dann wird einer versetzt und am nächsten Tag muss ein Neuer seinen Einstand geben. Die saufen da wie die Löcher, das ist fürchterlich. Auch nach Feierabend gibt es für viele nichts anderes, als noch eben mit den Kollegen auf ein Bier in die Pinte zu gehen.«
»Ja, und da hat Jens nie mitgemacht. Gut, seinen Einstand hat er gegeben, und wenn für einen Geburtstag oder so gesammelt wurde, gab er auch immer was, aber diese Feierei, nee, das war nicht sein Ding. Und so kam es, dass es nicht lange dauerte, bis die anderen anfingen, ihn zu mobben. Was die mit Jens gemacht haben, das war unter aller Kanone! Die haben ihn bei jeder Gelegenheit aufgezogen, haben ihn lächerlich gemacht und ständig über ihn gewitzelt. Das mag sich nicht so schlimm anhören, aber wenn das den ganzen Tag so geht, dann kann einen das schon mürbe machen.«
»Dann haben die angefangen, ihn auch vor den Bürgern lächerlich zu machen. ›Dafür ist Kollege Nichtraucher zuständig‹ oder ›Gehen Sie mal zu Herrn Muttersohn‹ haben die gesagt und sich schimmelig gelacht. Dass die ihm die Luft aus den Autoreifen gelassen haben, das war nur der Auftakt für eine ganze Serie von üblen Streichen. An seinem Bürostuhl haben sie eine Rolle abgemacht, ihm Kaffee mit fauligem Blumenwasser gebracht, und einen Tag haben sie Jens in der Herrentoilette in einer der Kabinen eingesperrt. Drei Stunden war er da drin, und erst dann ist der Hausmeister gekommen und hat ihn befreit.«
»So ist das viele Monate gegangen, und Jens ist daran kaputtgegangen. Sie glauben nicht, wie gerne der zur Arbeit gegangen ist, am Anfang wenigstens, aber dann … Erst wurde er krank, richtig krank, Bauchschmerzen, Magenprobleme, Durchfälle, alles nur psychosomatisch wegen seiner Kollegen. Dann hat er mit dem Personalrat gesprochen, und ein Vorgesetzter hat ein Rundschreiben gemacht. Aber das hat die Sache nur verschlimmert. Schließlich musste Jens sogar zum Psychotherapeuten, so haben die den fertiggemacht. Und wir glauben, dass er uns die wirklich schlimmen Sachen noch gar nicht erzählt hat. Ganze Wochen lang soll die ganze Abteilung ihn vollkommen ignoriert haben, die haben einfach so getan, als sei er Luft. So was kann einen Menschen fertigmachen.«
»Unentwegt hat das Telefon in seinem Zimmer geklingelt, und immer wenn er dranging, wurde schnell aufgelegt. Immer wieder bekam er über das Intranet der Stadtverwaltung Mails, in denen ihm damit gedroht wurde, man würde sein ›Geheimnis‹ verraten. Wir haben keine Ahnung, was das für ein Geheimnis hätte sein sollen, auch Jens wusste das nicht. Aber man kommt ja dann doch ins Grübeln und fängt an zu überlegen, was da gewesen sein könnte, was die anderen da wissen könnten … Aber uns ist nichts eingefallen.«
»Tja, und dann war auf einmal wieder alles in Ordnung, die Kollegen taten so, als würden sie Jens voll integrieren, waren ein paar Tage freundlich und nett zu ihm, nur um ihn dann, als er wieder Vertrauen gefasst hatte, wieder auflaufen zu lassen. Bei einem Ausflug, an dem er extra teilnahm, um seinen guten Willen zu zeigen, ließen sie ihn einfach an einer Autobahnraststätte stehen und lachten sich kaputt. Wir mussten dann 150 Kilometer fahren, um ihn da abzuholen.«
Und noch an viele Beispiele mehr errinnerten sie sich. So ging das wohl die ganze Zeit, und Jens ist daran kaputtgegangen …
Nicht nur zur fünften Jahreszeit sind auch bei uns hin und wieder die Narren los …
Gleich vier Männer kommen am Silvestertag zu mir ins Büro und wollen einen toten Freund beerdigen. Einen von denen kenne ich, er ist vorsitzender Richter oder leitender Präsident, oder wie immer das auch heißen mag, bei den örtlichen Karnevalsveranstaltungen. Jedenfalls sitzt er vorne in der Mitte, mit dem Gesicht zum Publikum, und alle machen, was er sagt.
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