Bis Frau Büser den Faden in die Nähmaschine eingespannt hat, vergeht fast eine Viertelstunde, und dann sitzt sie verwirrt vor den vielen Schaltern und fragt nach der Bedienungsanleitung.
Antonia legt ihr Schinken-Käse-Croissant aus der Hand, leckt sich die Finger ab, wischt sie an der Jeans trocken und übernimmt kurzerhand das Kommando:
»Das kann man ja nicht mit ansehen!«
Und dann geschieht etwas, was uns andere mit offenem Mund dastehen lässt, ruckzuck hat Antonia die Stoffstücke in die Maschine gespannt, drückt hier, klemmt da, tritt auf das Pedal und das Maschinchen rattert, und nur wenige Sekunden später zückt Antonia die Schere, schneidet den Faden ab und sagt: »Bitte schön! Ich hasse zwar Nähen, aber das heißt ja nicht, dass ich das nicht kann.«
Tatsächlich, mit den zusätzlichen Rüschen und dem neuen Totenhemd sieht die Frau mit dem langen Hals eigentlich ganz normal aus.
Und endlich weiß ich auch, wofür ich vor Jahren mal diese Nähmaschine gekauft habe, als sie beim Discounter im Angebot war.
Eine alte Frau von über 80 Jahren, ein alter Mann von fast 90 … Das sind Sterbefälle, die wickelt man ab, gibt sich redlich Mühe, den Angehörigen alles recht zu machen, und hat dabei meistens leichtes Spiel. Sie nehmen das und wollen das, was alle nehmen und alle wollen. So wie man es kennt, bloß nichts Neues, nichts anderes. Solche Sterbefälle bleiben einem selten lange in Erinnerung. Die Hinterbliebenen haben meist auch nicht viel zu erzählen, der Mensch war alt, seine Zeit war gekommen. Ganz anders ist das immer, wenn jemand durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird, und besonders schlimm ist das natürlich, wenn dieser Mensch auch noch jung war. Doch noch ganz anders ist es, wenn sich jemand selbst das Leben nimmt.
Manni kommt an meiner offenen Bürotür vorbei, ich sehe, dass er sich im Laufen seine Krawatte anzieht, und weiß, dass er sich jetzt im Büro die letzten Instruktionen für einen bevorstehenden Einsatz holt. Auch Sandy hat sich in Schale geschmissen, im Grunde trägt sie dasselbe wie Manni, nur statt der Krawatte hat sie ein schwarzes Bäffchen an.
Sie kommt zu mir ins Büro und sagt nur diese zwei Worte, die uns immer einen Schauer über den Rücken jagen: »Die Talbrücke.«
Bei der Brücke handelt es sich um eine Autobahnbrücke, die sich an der höchsten Stelle weit mehr als 50 Meter über den Grund spannt und die immer wieder Menschen anzieht, die sich das Leben nehmen wollen. Selbst eine Erhöhung des Geländers vor einigen Jahren hat nur wenig gebracht, etwa drei- bis fünfmal im Jahr muss irgendein Bestatter in die kleine Ortschaft unterhalb der Brücke, um einen Körper dort aufzulesen.
Es gibt sogar einen Bestatter in dieser Ortschaft, aber der weigert sich seit über vierzig Jahren, diese Opfer zu bergen, und so fällt diese traurige Arbeit neben den Rettungskräften immer dem Bestatter anheim, der gerade turnusmäßig Polizeidienst hat. Uns erwischt es etwa alle zwei Jahre, meistens haben wir Glück …
… heute aber nicht.
Ich will es dem geneigten Leser ersparen, näher darauf einzugehen, was unsere Leute an solchen Einsatzorten erwartet. Jedenfalls hat es mit der friedlich eingeschlafenen Großmutter, die mit einem Lächeln auf den Lippen ihrem Schöpfer gegenübertritt, nicht das Geringste zu tun.
Nach solchen Einsätzen kommt es immer mal wieder vor, dass selbst hartgesottene Bestattungshelfer einen freien Tag benötigen, und ich habe auch schon von Kollegen gehört, dass Männer wortlos ihre Sachen packten und nie wiederkamen.
Als Sandy und Manni gut zweieinhalb Stunden später zurückkommen, sind sie einsilbig und tun beide so, als wären sie ganze Kerle. Das gehört wohl dazu, man will wenigstens nach außen hin nicht schwächlich erscheinen, und manchmal retten sich die Bestattungshelfer auch in Scherze und ein Vokabular, das Angehörige besser nicht zu Ohren kommen sollte.
Ich will nicht sagen, dass meine Leute da ganz anders sind, aber zumindest habe ich so ein Verhalten in meinem Stall noch nicht beobachtet. Allerdings brauchen die Erlebnisse halt doch irgendwo ein Ventil …
Manni legt mir den Ausweis des Verstorbenen auf den Tisch, ich muss schlucken, es ist ein junger Mann, geboren 1990. Sandy tippt auf das Foto und sagt: »So sieht der aber nicht mehr aus.« Dann schauen sich Manni und Sandy an, ich mache die Schreibtischschublade auf, schiebe jedem einen Fünfziger über den Tisch, und wir wechseln kein weiteres Wort darüber.
Manni ist das Geld wichtiger als Sandy, er will seinem Sohn ein Fahrrad kaufen, Sandy schiebt mir das Geld wieder rüber, bedankt sich und meint, ich solle es bis Freitag aufheben, dann wolle sie mit Freunden nach Holland, Pilze kaufen. (Ich bin ja so doof. Man glaube mir bitte, dass ich ernsthaft annahm, das blöde Teufelsweib kaufe wirklich Champignons oder so was …)
»Wo ist der Verstorbene jetzt?«, will ich wissen, Manni sagt: »Unten bei Huber, die Freigabe können wir heute wohl noch holen, die [männlichen Kühe] sagen, der hätte einen Abschiedsbrief hinterlassen, und ein Brummifahrer hat gesehen, dass der ohne fremde Hilfe den Abgang gemacht hat.«
Als Manni sieht, wie ich ihn über meine Brille hinweg ansehe, verbessert er sich und sagt: »… wie der Mann in die Tiefe gesprungen ist.«
Jetzt können wir warten, ob sich jemand von den Angehörigen bei uns meldet oder ob die einen anderen Bestatter beauftragen, der dann den Verstorbenen bei uns wieder abholt. Ich jedenfalls rufe jetzt nicht bei den Angehörigen an, es kann nämlich durchaus sein, dass sich die Behörden, wie schon einmal, sehr üppig Zeit lassen und viele Stunden vergehen, bis da jemand bei der Familie vorbeigeht, um denen zu sagen, was passiert ist.
Ich erinnere mich da an einen Fall, bei dem ich nach fast vier Stunden wegen einer dringenden Frage bei einer Familie anrief und sofort merkte, dass die noch gar nicht Bescheid wussten. Glücklicherweise hatte ich mich nur mit meinem Nachnamen und nicht mit der Firmenbezeichnung gemeldet. Damals tat ich so, als hätte ich mich geirrt, und habe dann viel später nochmals angerufen.
Einer jungen, vielleicht auch etwas unerfahrenen Kollegin ist es aber passiert, dass sie im Auftrag der Polizei einen Verstorbenen abholen musste und man ihr sagte, dass man jetzt sogleich zu der Familie fahre und es wegen der Umstände am besten wäre, wenn sie kurz darauf direkt zu denen hinfahre. Das hat sie dann auch gemacht und stand dann da, mit ihrem Beratungskoffer bei der Mutter der Familie vor der Tür und stellte sich als Bestatterin vor, die wegen der Beerdigung ihres Mannes und Vaters der Familie hergekommen sei. Leider wusste die Frau noch gar nicht, dass sie Witwe war, und es ergab sich eine äußerst peinliche Situation.
Jetzt ist es natürlich nicht üblich oder die Regel, dass die Bestatter sich sofort mit den Angehörigen einer »Polizeileiche« in Verbindung setzen. Selbstverständlich wartet man normalerweise darauf, dass sich die Familie nach einigen Stunden von selbst meldet. Aber manchmal sind die Beamten, die die Todesnachricht überbringen, sagen wir es mal vorsichtig, etwas überfordert. Man darf nicht vergessen, dass sie oft kurz zuvor noch die teils dramatischen Bilder an der Unfallstelle sehen mussten und nun vor Menschen stehen, die mit nichts Bösem rechnen. Die Situation ist für alle nicht sehr einfach. Ja, und da kann es eben vorkommen, dass die einen falschen Bestatter nennen oder vergessen, den Bestatter zu nennen, oder sonst was schiefläuft. Wir haben dann einen Verstorbenen in der Kühlung, und die Angehörigen haben keinen blassen Schimmer, wo der ist.
Wenn sich also so überhaupt gar keiner bei uns meldet, dann müssen wir die Leute irgendwann mal anrufen und fragen, was denn jetzt sei.
In diesem Fall hier habe ich aber überhaupt keine Lust, bei den Leuten anzurufen. Ich hoffe einfach nur, dass die sich bei uns melden, das ist für mich wesentlich einfacher.
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