Für Frau Weiß war die folgende Zeit aber die Hölle. Die Birnbaumer-Nüsselschweif sprach ungefragt die Mütter kleiner Kinder an und warnte sie vor dem Sexverbrecher; außerdem ermittelte sie auf eigene Faust, indem sie auf dem Friedhof andere Frauen befragte, ob nicht auch diese von Stoffel beinahe vergewaltigt worden wären.
So trug sie dazu bei, dass sich trotz anfänglicher Zweifel in der Bevölkerung der Gedanke breitmachte, dieser Stoffel sei vielleicht doch nicht so harmlos, wie man immer geglaubt hatte. Wenn Stoffel mal aufs Klo musste, ging er zu seiner Mutter. Frau Weiß war nämlich Klo- und Putzfrau. An den Markttagen hielt sie das Toilettengebäude am Marktplatz sauber und saß dort geduldig an einem Tischchen mit einem Teller, auf den die Leute ein paar Münzen warfen, wenn sie austreten waren. An den übrigen Tagen hatte Frau Weiß an die zwanzig Putzstellen. So konnte sie nach dem frühen Tod ihres Mannes sich, den Stoffel und Stoffels Bruder Herrmann durchbringen und Letzterem sogar ein Studium finanzieren. Alles in allem hatte man Respekt vor dieser einfachen, vielleicht etwas gewöhnlichen, aber doch sehr fleißigen Frau.
Der strategisch günstige Platz der Markttoilette gab Frau Weiß die Gelegenheit, die Menschen langsam wieder davon zu überzeugen, dass ihr Stoffel ein ganz lieber Junge ist. Das gelang ihr auch ganz gut, jedoch blieb ihr der durchschlagende Erfolg verwehrt. Das änderte sich, als eines Tages Frau Schipanski aufs öffentliche Klo musste. Die Schipanski ist die größte Klatschtante im ganzen Ort und konnte es sich natürlich nicht verkneifen, Frau Weiß auf ihren »pornografisch veranlagten« Sohn anzusprechen. Doch Frau Weiß nutzte die Chance und fütterte die Schipanski mit einer ganz entscheidenden Information. Sie behauptete nämlich, der Stoffel habe gar keinen Schniedelwutz; das sei bei seiner Behinderung so, und deshalb könne die Behauptung der Birnbaumer-Nüsselschweif auch nicht wahr sein.
Ob Stoffel nun einen Schniedelwutz hat oder nicht, ist im Grunde vollkommen ohne Belang. Es muss auch stark angezweifelt werden, dass ihm dieses wichtige Teil fehlt, aber bei der Schipanski verfehlte diese – natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit zugetragene – Information ihre Wirkung nicht. Sie schwor beim Grab ihrer Mutter und den sieben Geißlein, dass sie niemals ein Sterbenswörtchen darüber verlieren werde, und verließ aufgeregt die Markttoilette; kaum eine Stunde später machte die Geschichte in der ganzen Ortschaft ihre Runde.
Es heißt, am nächsten Sonntag habe die Birnbaumer-Nüsselschweif eine ganze Kirchenbank für sich allein gehabt, weil sie von allen geschnitten wurde. Stoffel jedenfalls war rehabilitiert, und die Geschichte konnte allmählich in Vergessenheit geraten.
Jetzt sitzt mir Stoffel im Bestattungsinstitut gegenüber und schaut mich mit großen Orang-Utan-Augen an. Er ist traurig, seine Mama ist tot. Neben ihm sitzt sein Bruder Herrmann, ein großgewachsener, gutaussehender Mann. Ich wusste, dass es eines Tages passieren würde, denn Frau Weiß war vor Jahren schon bei uns, um eine Bestattungsvorsorge abzuschließen.
Normalerweise suchen sich die Menschen dann alles aus, ich rechne zusammen, und es wird ein Sparbuch über den nötigen Betrag angelegt. Frau Weiß hat mir allerdings nur Vollmachten und einen Auftrag unterschrieben, den Rest hat sie in zwei großen braunen Umschlägen festgelegt. Dazu hatte sie mir eingeschärft, unter welchen Bedingungen ich welchen Umschlag öffnen soll. Der jeweils andere soll dann unverzüglich und ungeöffnet vernichtet werden. Nun denn, es ist zwar außergewöhnlich, aber es kommt immer wieder mal vor, dass ältere Menschen ganz detaillierte Anweisungen geben.
Meine Aufgabe soll es nun sein, herauszufinden, wie es mit Stoffel weitergeht. »Wenn mein Sohn Herrmann seinen Bruder zu sich nimmt, öffnen Sie bitte Umschlag Nummer 1. Sollte er das aber nicht tun, vernichten Sie diesen Umschlag und öffnen Sie Umschlag Nummer 2«, hatte Frau Weiß gesagt und mir die beiden Umschläge über den Tisch geschoben.
Auftragsgemäß frage ich Herrmann: »Was wird denn nun aus Ihrem Bruder?«
Herrmann zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung, aber ich denke, es wird das Beste für ihn sein, wenn er in ein schönes Pflegeheim kommt.«
Um ganz sicherzugehen, frage ich nach: »Und Sie haben nicht darüber nachgedacht, Herbert zu sich zu nehmen?«
Herrmann schüttelt den Kopf. »Das kann ich gar nicht, wir haben überhaupt keinen Platz, und finanziell geht es uns auch nicht so gut.«
Ich nehme den Brieföffner und will gerade den Umschlag Nummer 2 öffnen, da dreht sich Stoffel zu seinem Bruder um und sagt: »Herrmann, Stoffel hat Herrmann lieb, ganz lieb«, lehnt seinen Kopf an die Schulter seines Bruders und lächelt ihn an.
Herrmann schaut auf Stoffel, reibt sich die schweißnassen Hände und sagt mit leiser Stimme: »Ach, wenn ich ihn so anschaue … Ich mein, der hat noch nie jemandem was getan … Vielleicht ist es doch besser, wenn ich ihn mitnehme. Der wird doch todunglücklich, wenn er kein vertrautes Gesicht um sich hat.« Ich nicke, und Herrmann überlegt weiter: »Eigentlich sollte unsere Große ja das eine Zimmer bekommen, aber da kann genauso gut mein Bruder einziehen.«
Den Umschlag mit der Nummer 2 schiebe ich also wieder beiseite und nehme den anderen. Zwei Sekunden später liegen die vormals darin enthaltenen Unterlagen vor mir auf dem Tisch. Es handelt sich um zwei Policen. Frau Weiß hat zwei Lebensversicherungen abgeschlossen. Eine über 80000 Euro und die andere – selbst ich muss schlucken – über 370000 Euro. Begünstigter ist in beiden Fällen Herrmann. Außerdem befindet sich ein kleinerer Umschlag dabei, auf dem handschriftlich Herrmann steht.
Ich überreiche Herrmann den Umschlag, und er öffnet ihn. Eine ganze Weile liest er die Zeilen seiner Mutter, dann steckt er den Brief in die Innentasche seines Jacketts, streichelt Stoffel über den Kopf und sagt: »Es ist unglaublich. Meine Mutter hat Tag und Nacht gearbeitet, und ich dachte immer, sie käme mit Stoffel gerade so über die Runden und habe ihr sogar hin und wieder etwas zugesteckt. Jetzt stellt sich heraus, dass sie für Stoffel und mich sogar vorgesorgt hat …«
Drei Tage später bringen wir den Sarg mit Frau Weiß zum Krematorium. Am Fußende, ganz unten am Sargboden, liegt ein brauner Umschlag und wird mit eingeäschert. Herrmann hat für seine Familie und Stoffel ein Haus gekauft, und man sieht Stoffel heute noch, wie er seine geliebten Autonummern aufschreibt. Wenn ich ihm begegne, muss ich immer an den Umschlag Nummer 2 denken. Es hätte mich schon interessiert, was seine Mutter für den Fall, dass Herrmann seinen Bruder nicht zu sich nimmt, vorgesehen hatte.
Manchmal steht man den Wünschen seiner Kunden etwas hilflos gegenüber. Einmal bestellte eine Frau Bommerlanden für ihren Mann: »Der Kranz muss richtig dick mit Bommerlanden besteckt sein.« Kein Mensch weiß bis heute, wie Bommerlanden aussehen und was Bommerlanden sind. »Na, wenn Sie keine haben, dann nehmen wir Nelken.« Es ist mir auch bislang nicht gelungen, Zerbenholz zu finden. Ob wir nicht auch einen Sarg in Zerbenholz hätten, wollte einmal ein Mann wissen. Er nahm dann Buche, das sehe zwar ganz anders aus, sei aber auch sehr schön.
Diese Kundin steht in Witwenschwarz vor mir, guckt mich mit großen Augen an und fragt: »Können Sie bitte dafür sorgen, dass am Sarg das Lied von der Messerdora gespielt wird?«
Messerdora? Das kenne ich nicht, klingt ein bisschen nach einer Figur aus der Dreigroschenoper, aber ich bin mir sicher, dass da keine Messerdora vorkommt. Jetzt will ich natürlich nicht als Kulturbanause dastehen und frage ganz vorsichtig nach: »Messerdora, ja sicher, und in welcher Version hätten Sie das gerne?«
Ha! Ist das nicht clever von mir? So kriege ich vielleicht noch etwas Input, ohne zugeben zu müssen, dass ich nicht den blassesten Schimmer habe, wer oder was die Messerdora ist.
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